Blick ins mittelalterliche Indien
28.06.2022Bis heute ist in Indien ein altes Ritual lebendig: Es dreht sich um eine mittelalterliche Erzählung, die Gewaltlosigkeit propagiert. Dazu startet die Würzburger Indologie ein neues Forschungsprojekt.
Es war ein indischer Professor, der Dr. Anna Aurelia Esposito in Aufregung versetzte. Er berichtete ihr von einem alten „Gegenritual“ der Jainas anlässlich des Festes Navarātri, das der hinduistischen Göttin Durga gewidmet ist. Bis heute, so erfuhr die Privatdozentin am Lehrstuhl für Indologie der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg, werde bei diesem Ritual die Geschichte des Königs Yaśōdhara erzählt.
Sofort war die Indologin Feuer und Flamme, denn sie hatte sich schon lange mit dem südindischen Schlüsseltext über diesen König beschäftigt. Doch nirgends in der ihr bekannten Literatur fanden sich Hinweise auf das Ritual. Nun erhält sie in einem neuen Forschungsprojekt die Möglichkeit, bei zwei Indienreisen mit Priestern, Laienanhängerinnen und -anhängern des Jainismus und mit Forschenden darüber zu sprechen.
DFG fördert das Projekt mit 325.000 Euro
Das neue Projekt „Die Geschichte des Königs Yaśōdhara im religiösen und kulturellen Umfelds Karnāṭakas“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit Juni 2022 für drei Jahre mit 325.000 Euro gefördert.
Die Reisen nach Indien machen nur einen Teil des Projekts aus. Es beinhaltet auch die Analyse des zentralen Textes eines mittelalterlichen Hofdichters namens Janna, Vergleiche mit acht älteren und mit zeitgemäßen Erzählungen sowie sozialgeschichtliche Studien unter anderem zu religiösen Auseinandersetzungen und Rivalitäten in jener Zeit, sowie ein abschließender, internationaler Workshop mit Fachleuten.
Dr. Esposito spricht von einem „Rundumschlag zu einem mittelalterlichen Werk, das Auswirkungen bis in die Gegenwart“ habe. Gleichzeitig spiegle das Projekt die vielfältigen Arbeitsfelder der Indologie.
Hofdichter, Minister und Krieger zugleich
Vorneweg ein Blick aufs mittelalterliche Karnāṭaka, das in seiner Fläche im Groben den Grenzen des heutigen gleichnamigen südindischen Bundesstaates entsprach. Wer dort als Herrscher etwas auf sich hielt, beschäftigte Dichter, erzählt Esposito. Poesie stand hoch im Kurs, auch mancher König und manche Königin schmiedete an eigenen Versen.
Aufgabe der Hofdichter war es gleichzeitig, die Herrschenden zu verherrlichen; manche zogen dafür bei kriegerischen Auseinandersetzungen im Heer mit. So auch Janna, seines Zeichens Hofdichter, Minister und Heerführer unter zwei Hoysaḷa-Königen. Aus seiner Feder stammt eine Version des „Yaśōdharacarite“.
Diese „Geschichte des (Königs) Yaśōdhara“ bildet für die Würzburger Indologin einen Schlüsseltext, will man sich mit dem religiösen und kulturellen Umfeld im mittelalterlichen Karnataka beschäftigen. Hier könne Grundlagenarbeit geleistet werden, wie übrigens in vielen Bereichen der Indologie: Einerseits gebe es extrem viel Literatur, andererseits seien etliche Texte bis heute nicht ediert und nur in einzelnen indischen Kulturkreisen bekannt.
Ein Hahn aus Teig wird geopfert
Beim „Yaśōdharacarite“ handelt es sich um eine rein symbolische Erzählung, Yaśōdhara lebte nicht wirklich, verkörpert aber in sich alle guten Eigenschaften eines idealen, rechtschaffenen Königs. An seiner Seite: eine wunderschöne Ehefrau. Die allerdings verliebt sich in einen hässlichen Elefantentreiber.
Was tun? Ihn zu töten, kommt nicht in Frage, denn zentrales Konzept des Jainismus als religiöse Strömung ist die Gewaltlosigkeit in Taten, Worten und Gedanken. Yaśōdhara opfert also nach einem schrecklichen Traum auf Ratschlag seiner Mutter einen Hahn aus Teig. Doch selbst auf diesen rein symbolischen Gewaltakt müssen der König und seine Mutter sieben schreckliche Wiedergeburten sowie drastische Tode erleben. Literatur wie diese sei auf Belehrung ausgelegt, man wolle damit zeigen, wozu selbst ein einziger symbolischer Gewaltakt führen könne, erklärt Esposito.
Übergang zur Dichtung in Volkssprachen
Spannend ist für die Indologin auch, dass ab dem 9./10. Jahrhundert nicht länger auf Sanskrit, sondern in Volkssprachen gedichtet wurde. Janna übertrug die Erzählung, die schon seit einigen Jahrhunderten ein beliebter Topos der jainistischen Literatur war, seinerzeit wohl als erster Dichter in die Sprache Kannaḍa.
Mittelfristig plant Esposito jenseits des aktuellen DFG-Projekts eine deutsche Übersetzung der Erzählung. Der Text sei schön und es wert, ihn der hiesigen Leserschaft zugänglich zu machen.
Kannaḍa im Studium der Indologie
Deutschlandweit beschäftigen sich nur die Indologien in Würzburg und München mit der Sprache Kannaḍa. An der JMU ist es für Studierende der Indologie Pflicht, Hindi und Sanskrit zu lernen. Kannaḍa wird als Wahlsprache angeboten. Die meisten Studierenden nutzen das Angebot der JMU, Sprachkurse in Indien zu besuchen.
Die Arbeit mit originalsprachlichen Texten ist nur ein Teilbereich der Indologie. Es geht im Studium auch um die indische Kultur in ihrer ganzen Vielfalt, angefangen bei der Geschichte über Landeskunde, Literatur, Philosophie und Kunst bis hin zu interkulturellen Kompetenzen. In den Vorlesungen sitzen auch Studierende anderer Fächer, die zum Beispiel über das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSIK) dazustoßen.
Ein Bild der mittelalterlichen Gesellschaft zeichnen
Doch zurück ins mittelalterliche Karnāṭaka und zum „Yaśōdharacarite“. Esposito will bei der Textarbeit unter anderem Aspekte interreligiöser Auseinandersetzung, Fragen der Legitimation, des politischen Einflusses und der Rivalität um Patronage herausarbeiten und so ein Bild der Gesellschaft am Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert zeichnen. Interessant ist diese Zeit in der historischen Betrachtung, weil neben dem Jainismus neue religiöse Strömungen an Macht gewannen.
Soweit der Blick in die Geschichte. Aufarbeiten will die Indologin jedoch auch, dass die Erzählung bis heute im Jainismus bedeutsam ist. Zum einen gibt es seit dem 8. Jahrhundert bis in die Moderne Adaptionen des „Yaśōdharacarite“. Auch ein Werk aus dem Jahr 1980 will Esposito analysieren.
Heutige Rituale vor Ort erleben
Die Erzählung über den König spielt in Karnāṭaka bis heute eine religiös-kulturelle Rolle. Esposito plant, im Rahmen der zum DFG-Projekt gehörenden Reisen an den Feierlichkeiten von Jīvadayāṣṭamī teilzunehmen. Sie möchte selbst erleben, wie die moderne Geschichte um den König Yaśōdhara erzählt wird. Wie statt blutiger Opfer an die hinduistische Göttin Durga in einem jainistischen „Gegenritual“ symbolisch Blüten und Früchte dargebracht werden. Seit wann das Fest existiert, wie Familien es traditionell feiern und welche religiöse Motivation hinter dem Ritual steht: Das und noch mehr hofft die Indologin herauszufinden.
Kontakt
PD Dr. Anna Aurelia Esposito, Lehrstuhl für Indologie, Universität Würzburg, anna.esposito@uni-wuerzburg.de