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Warum die Politik weniger auf Umfragen achten sollte

05.12.2023

Der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Kestler von der Uni Würzburg beschreibt in seinem neuen Buch, warum politisch Handelnde mehr auf Ideen und weniger auf Umfragen achten sollten.

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Dr. Thomas Kestler, Politikwissenschaftler an der Universität Würzburg. (Bild: Rainer Lentz)

Mit der Verbreitung neuer Medien und dem Abschmelzen stabiler Parteilager haben sich die Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs deutlich verändert. Die öffentliche Meinung ist „launischer“ und damit unberechenbarer geworden.

„Für politische Akteurinnen und Akteure entstehen daraus Risiken, aber auch Chancen“, sagt Dr. Thomas Kestler, Politikwissenschaftler an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg. Angesichts dieser veränderten Situation sollte die Rolle von Ideen in der Politik neu bewertet werden. „Ideen sind der Schlüssel, um die Risiken zu minimieren und die sich bietenden Chancen zu nutzen.“

Den Zusammenhang zwischen Ideen und politischem Handeln hat der JMU-Forscher in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2022 theoretisch begründet. Die Implikationen für die praktische Politik, die sich daraus ergeben, hat er nun in einem neuen Buch beschrieben.

Die zentralen Aussagen seines Buches hat Kestler in der Zeitschrift politik&kommunikation zusammengefasst. Der Beitrag heißt „Kopfsache. Warum die Politik weniger auf Umfragen und mehr auf Vorstellungen achten sollte“.

Meinungsumfragen reichen nicht, um die Wirklichkeit zu verstehen

In dem Beitrag verweist der Würzburger Wissenschaftler zunächst auf einige scheinbar paradoxe Phänomene. Erstes Beispiel: die FDP. Eigentlich müsste sich diese Partei laut Kestler im Höhenflug befinden. Denn ob Schuldenbremse, Verbrennungsmotor oder Energiepolitik, die meisten Bürgerinnen und Bürger unterstützen ihre Positionen in diesen Bereichen. Stattdessen bewegt sich die Partei nahe an der Fünf-Prozent-Hürde. Und Christian Lindner, das Gesicht der Liberalen, rangiert weit unten in den Beliebtheitsrankings.

Zweites Beispiel: der Klimawandel. Laut Umfragen sehen ganze 82 Prozent der Deutschen einen großen oder sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz. Und doch konnten im Frühjahr 2023 selbst in Berlin nicht genügend Stimmberechtigte (18 statt der nötigen 25 Prozent) für einen Volksentscheid mobilisiert werden, der auf eine frühzeitigere Klimaneutralität der Stadt abzielte. Und die Touristikbranche? Sie meldet einen Boom bei Fernreisen.

Vergleichbare Widersprüche lassen sich viele finden. Einstellungen, wie sie sich in Meinungsumfragen ausdrücken, sagen offenbar wenig über die tatsächliche politische Unterstützung aus. „Umfragen führen sehr leicht zu einer Fehleinschätzung der politischen Stimmung und Handlungsbereitschaft auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger, weil sie vorwiegend nach Bewertungen fragen und dabei kognitive Faktoren – Ideen und Vorstellungen - übersehen“, sagt Kestler.  

Google zeigt den kognitiven Raum, in dem sich die Öffentlichkeit bewegt

Meinungen, Einstellungen und Wertungen seien zwar notwendig für das Handeln, aber nicht ausreichend. „Handeln hat auch eine kognitive Seite, und die hängt ganz zentral von Wissen, Vorstellungen und Aufmerksamkeit ab“, so Kestler

Anders gesagt: Obwohl viele Menschen den Klimawandel als ernstes Problem sehen, setzen sich nur wenige wirklich damit auseinander: „Daten von Google Trends zeigen: Von 2017 bis 2021 interessierten sich mehr Menschen für die Comicfigur Spongebob als für den Klimawandel, und das sogar zu der Zeit, in der die Klimabewegung Fahrt aufnahm.“ Suchanfragen bei Google zeigten, wo die Aufmerksamkeit der Menschen tatsächlich liegt. „Sie liefern ein klareres Bild des kognitiven Raums, in dem sich die politische Öffentlichkeit bewegt.“

Betrachtet man diesen kognitiven Raum im Verlauf der Zeit, dann zeige sich, dass das Interesse der Menschen an den Hauptakteuren und Institutionen der Politik deutlich gesunken ist. Kestler weist das in seinem Beitrag mit Hilfe des Analyseinstruments Google Ngram nach, das die Häufigkeit einzelner Wörter in Google Books abbildet. Bei den Nennungen der zentralen Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident zeigt es einen stetigen und deutlichen Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre.

Alte Strategien der politischen Kommunikation scheitern

Thomas Kestler kommt zu dem Schluss: „Die Verankerung politischer Inhalte im kollektiven Bewusstsein löst sich. Das Ergebnis sind unberechenbarere Wähler und mehr Wechselwähler.“

Für die politische Kommunikation bedeute das: Alte Strategien funktionieren nicht mehr. Es reiche nicht mehr aus, bekannte Knöpfe zu drücken, um die anvisierten Gruppen zu mobilisieren. Wer als Politiker von einem Tag auf den anderen entdeckt, dass er die Zuwanderung begrenzen will, erhält bei der nächsten Wahl nicht automatisch die Stimmen, auf die er es abgesehen hat. „Zudem ist es sehr viel schwieriger geworden, das Publikum überhaupt zu erreichen. Ohne einen sehr großen Lautsprecher dringt niemand mehr zu den Adressaten durch“, so Kestler.

Neue Chance: Ideen in prägnante Begriffe fassen

Aber der Politikwissenschaftler sieht auch Chancen: „Ein zunehmend größerer Teil der Wählerschaft verfügt über keine fest verankerten Überzeugungen und Parteibindungen. Die Menschen schließen sich oft der vermeintlichen Mehrheitsmeinung an und übernehmen naheliegende Deutungen.“  Parteien, die ihr eigenes Lager effektiv mobilisieren, könnten von diesem Herdenverhalten profitieren . „Viele Akteure unterschätzen die Hebelwirkung, die kleine Gruppen in einer insgesamt schrumpfenden Öffentlichkeit erzielen können.“ Beispiele dafür seien die Black-Lives-Matter- und die Klimaschutzbewegung: „In beiden Fällen ist es einer zunächst kleinen Avantgarde gelungen, die öffentliche Wahrnehmung zu prägen.“

Besonders gut gelinge das durch prägnante Begriffe und Bilder. Der Ex-SPD-Chef Franz Müntefering prägte mit dem Begriff „Heuschrecke“ die Wahrnehmung von Finanzinvestoren in der Öffentlichkeit entscheidend. Dasselbe gelang dem Verein „Campact“ mit dem „Chlorhuhn“ im Kampf gegen das Handelsabkommen TTIP. Kestler: „Parteien können die Bedingungen einer volatileren politischen Öffentlichkeit nutzen, indem sie latente Vorstellungen in Begriffen bündeln und die Mobilisierungsbereitschaft der eigenen Kernanhängerschaft als Verstärkungsmechanismus nutzen“. Vielfach sei das der effektivere Weg, als sich an einer vermeintlichen Umfragemehrheit zu orientieren.


Publikation

Thomas Kestler: Wie man die Macht von Ideen nutzt. res publica Wissenschaftsverlag Ingo Naumann, 2023, Taschenbuch, 165 Seiten, 28,00 Euro, ISBN-10: ‎ 3959680880, ISBN-13: 978-3959680882

JMU-Webseite von Thomas Kestler

Von Robert Emmerich

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