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Das Verhältnis von Text und Praxis

02.05.2017

Jörg Gengnagel leitet seit April 2017 den Lehrstuhl für Indologie der Universität Würzburg. Auf seinen Reisen durch das Land interessiert ihn unter anderem, wie Vorschriften aus mittelalterlichen Texten heute umgesetzt werden.

Jörg Gengnagel
„Kann man das Bad in einem heiligen Fluss verbieten, weil er zu dreckig ist, wenn doch dem Bad ein reinigender Charakter zugeschrieben wird?“ Das ist eine Frage, mit der sich der Indologe Jörg Gengnagel beschäftigt. (Foto: Gunnar Bartsch)

Nein, im Ganges gebadet hat Jörg Gengnagel noch nicht. Das ist wahrscheinlich auch besser so. Schließlich hat der Fluss heutzutage mehr Ähnlichkeit mit einer giftigen Kloake als mit einem Heiligtum. Und dennoch lassen sich jeden Tag mehrere Zehntausend Hindus trotz des Drecks nicht von einem „reinigenden“ Bad im Ganges abhalten.

Dieser Kontrast zwischen Heiligtum und Abwasserkanal ist es, was Gengnagel interessiert. Der Wissenschaftler hat seit diesem Semester den Lehrstuhl für Indologie an der Universität Würzburg inne; einer seiner Forschungsschwerpunkte sind „religiös konnotierte Konzepte von Wasser und Umweltschutz im modernen Indien“.

Religion und Umweltschutz

„Kann man das Bad in einem heiligen Fluss verbieten, weil er zu dreckig ist, wenn doch dem Bad ein reinigender Charakter zugeschrieben wird?“ Das ist eine Frage, mit der sich Jörg Gengnagel beschäftigt. Was passiert, wenn religiöse Sphäre und Umweltschutz aufeinander treffen? Führt das zu einem schwer lösbaren Konflikt? Oder sollten nicht gerade an solchen Orten, die in der Religion eines Landes eine besondere Rolle spielen, Umweltschützer ein leichtes Spiel haben?

Ein Beispiel für solch einen Konflikt hat Gengnagel bei einem seiner letzten Besuche in Indien selbst beobachten können. An einem kleinen Fluss, der sich dank eines großen Neubaugebiets in einen stinkenden Abwasserkanal verwandelt hatte, zelebrierten Priester eine Reihe religiöser Rituale. Im Gespräch mit ihnen erfuhr der Wissenschaftler hinterher, dass sie damit einen konkreten Appell an die Politik richten wollten. Ihr Ziel: die frühere Sakraltopographie zu retten.

Hofrituale – einst und heute

Mindestens zwei Mal im Jahr – meist für mehrere Wochen – reist Jörg Gengnagel nach Indien. Dort ist er meist im Norden, in Jaipur (Rajasthan) und Varanasi, unterwegs und erkundet das Land häufig zu Fuß. Hofrituale in Jaipur bilden dabei einen Schwerpunkt seines Interesses. „Ich untersuche, wie sich diese Rituale vom 18. Jahrhundert bis zur indischen Unabhängigkeit im Jahr 1947 verändert und an historische Bedingungen angepasst haben“, erklärt er.

Im Staatsarchiv von Rajasthan ist Gengnagel beispielsweise auf Hofprotokolle gestoßen, die akribisch schildern, welche Schritte vollzogen werden müssen, wenn ein Herrscher stirbt – angefangen bei der Verbrennung des Leichnams über vorgeschriebene Tempelbesuche bis zur Einsetzung des neuen Herrschers und dem Wert der dargebrachten Geschenke. Die Prozessionswege aus dieser Zeit ist Gengnagel abgelaufen, um nach heutigen Spuren zu suchen.

Zusätzlich vergleicht der Wissenschaftler die Rituale von einst mit dem Geschehen von heute bei einem Herrscherwechsel. Wie: Herrscherwechsel? In einer demokratische Republik, in der das Königtum seit Langem abgeschafft ist? „Offiziell gibt es die Maharadschas nicht mehr. Aber es gibt noch immer eine königliche Familie, die in Jaipur sogar in einem Palast lebt“, sagt Gengnagel.

Eines dieser ursprünglich höfischen Rituale will der Indologe in diesem Herbst besuchen. Dann steht im Rahmen eines zehntägigen Festes die alljährliche Segnung der Herrschaftsinsignien an, bei der Thron, Waffen und Kutschen aus dem Besitz der königlichen Familie geholt und geweiht werden. Weil Gengnagel die Familie des Hofpriesters kennt, konnte er die dazugehörigen Regularien lesen – und kann sie dann mit dem realen Geschehen vergleichen.

Jörg Gengnagels wissenschaftliche Karriere

Jörg Gengnagel hat Indologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Tübingen studiert und dort nach Studienaufenthalten an der Banaras Hindu University und der Universität Oxford über einen Text des mittelalterlichen dualistischen Śivaismus promoviert. Die Sprache und die philosophischen Konzepte hatten es ihm damals besonders angetan, sagt er. Wobei ihm auch in dieser Zeit schon die Forschung allein an Textquellen nicht gereicht habe. Ihn habe von Anfang an die Frage interessiert, wie Texte in eine Praxis umgesetzt werden; wie das, was diese Texte vorschreiben, in konkrete Handlungen einfließt.

Von 1997 an war Gengnagel am Südasien-Institut der Universität Heidelberg in verschiedenen Funktionen an den Abteilungen Kultur- und Religionsgeschichte Südasiens (Klassische Indologie) und Neusprachliche Südasienstudien tätig, zuletzt als Professurvertretung. Er war Projektleiter im Exzellenzcluster „Asien und Europa im globalen Kontext“ und dem BMBF-Verbundprojekt „Weltweites Zellwerk“. 2006 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit zur religiösen Kartographie von Benares (Varanasi).

Neue Ideen für die Lehre

Was das Lehrangebot der Würzburger Indologie angeht, hat Gengnagel ganz konkrete Vorstellung. Er will beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Digital Humanities intensivieren und gemeinsame Projekte initiieren. Mit Unterstützung der kulturwissenschaftlichen Informatik sei es etwa in seinem Forschungsschwerpunkt „Pilgern und Pilgerwesen im modernen Indien“ möglich, interaktive Karten der Pilgerrouten zu erstellen und im Netz zu veröffentlichen.

Und in seiner Vorlesung „Der Hinduismus – eine Erfindung?“ geht er dem Verhältnis von europäischer Indologie zu dem Geschehen in Indien auf den Grund. Ein Hintergrund dieser Überlegungen ist der sogenannte „Pizza-Effekt“. Der besagt, dass die Pizza ihre Popularität Einwanderern in die USA verdankt. Diese hatten sie dort auf die Speisekarten der Restaurants gesetzt. Und erst nachdem der runde Teigfladen in den USA seinen Siegeszug angetreten hatte, lernten auch die Italiener in ihrer europäischen Heimat die Pizza zu schätzen. Ein vergleichbares Phänomen sieht Gengnagel in der Begeisterung für Yoga. Die sei auch zunächst im Westen besonders groß gewesen, bevor sie quasi in den Osten wieder re-importiert wurde.

Indologie-Absolventen seien heute gefragte Experten, sagt Jörg Gengnagel. Weil sich zurzeit die Gewichtungen zwischen Ost und West veränderten und die Deutungshoheit des Westens verstärkt in Frage gestellt werde, würden Indologen in vielen Bereichen „dringend benötigt“. Wer sich für ein Indologie-Studium entscheidet, brauche seiner Meinung nach allerdings unbedingt eine persönliche Motivation beziehungsweise einen Bezug zu Indien. Ohne diese persönliche Form des Zugangs werde es sonst schwer durchzuhalten.

Kontakt

Prof. Dr. Jörg Gengnagel, Lehrstuhl für Indologie, T: +49 931 31-88516, joerg.gengnagel@uni-wuerzburg.de

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