Eine fotografische Reise durch Raum und Zeit
27.09.2016Die Entwicklung einer Stadt mit Hilfe alter Fotografien sichtbar machen: Das ist das Ziel eines neuen Forschungsprojekts, das in Würzburg und Dresden beheimatet ist. Kunsthistoriker und Informatiker arbeiten dabei eng zusammen.
Gut 1,8 Millionen Fotografien, Gemälde, Grafiken, Karten und Architekturzeichnungen lagern in den Beständen der Deutschen Fotothek und stehen in digitalisierter Form Interessenten weltweit zur Verfügung. Viele davon zeigen Stadtansichten und Gebäude von Dresden – beginnend um 1850 bis heute. Für diesen Fundus interessieren sich Wissenschaftler aus Würzburg und Dresden in einem neuen Forschungsprojekt; eines ihrer Ziele ist es, die Bilder räumlich und zeitlich zu verorten und für andere Interessenten nutzbar zu machen. „HistStadt4D – Multimodale Zugänge zu historischen Bildrepositorien“: So lautet der Name des Projekts. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert das Projekt in den kommenden vier Jahren mit zwei Millionen Euro.
„Unser Projekt verbindet zwei unterschiedliche Perspektiven: eine geschichtswissenschaftliche und eine informationswissenschaftliche“, sagt Dr. Florian Niebling. Der Informatiker vertritt die informationswissenschaftliche Seite und leitet die Nachwuchsforschergruppe HistStadt4D an Professor Marc Erich Latoschiks Lehrstuhl für Informatik 9 der Universität Würzburg.
Der Beitrag der Informatiker
Die informationswissenschaftliche Seite: „Wer heute bei der Deutschen Fotothek nach Bildern sucht, kann dies mit Hilfe der Freitextsuche in einem browserbasierten Interface tun“, sagt Florian Niebling. Ob er damit die richtigen Treffer erhält, hängt sehr von der Qualität der Metadaten ab, mit denen die Fotos verschlagwortet sind. An der mangelt es jedoch häufig – vor allem bei wenig erforschten Aufnahmen. Angaben zum Fotografen, zum Aufnahmejahr oder zum genauen Standort sind bei ihnen Fehlanzeige, weshalb sie leicht durch ein Suchraster hindurchfallen.
Diese Bilder wollen Niebling und seine Doktoranden für eine räumliche Suche aufbereiten. Oder, in der Sprache des Informatikers: „Wir wollen die Fotos in einem Stadtmodell automatisch 3D-verorten“, so Niebling. Dann können die Nutzer der Fotothek virtuell durch ein Modell Dresdens spazieren und sich genau die Bilder anzeigen lassen, die für ihren jeweiligen Standort im Archiv gespeichert sind. Zusätzlich soll das Modell um eine vierte Dimension – die Zeit – erweitert werden und so eine Recherche zur Entwicklung von Straßen und Gebäuden ermöglichen.
Information per Augmented Reality
Eine verbesserte Suchfunktion ist jedoch nur ein Aspekt, mit dem sich die Informatiker in dem Forschungsprojekt befassen werden. Ein anderer ist die Vermittlung: „Heutzutage läuft die Vermittlung von Informationen über die Stadt und ihre Entwicklung in der Regel über kulturhistorisch orientierte Ausstellungen“, sagt Niebling. Gemeinsam mit seiner Nachwuchsgruppe will er einen anderen Weg eröffnen – das Schlagwort dazu lautet: Augmented Reality, zu Deutsch „erweiterte Realität“.
Mit Hilfe einer von den Informatikern entwickelten App können dann Dresden-Besucher beispielsweise am Zwinger ihr Tablet oder Smartphone vor das Gebäude halten. Auf dem Bildschirm erhalten sie so Informationen über die betrachteten Ausschnitte des weltberühmten barocken Bauwerks, können historische Ansichten betrachten und entlang eines Zeitstrahls die bauliche Entwicklung über die Jahre hinweg verfolgen.
11.143 Treffer verzeichnet die Datenbank der Deutschen Fotothek unter dem Stichwort „Dresden-Altstadt“. Von vielen Gebäuden existieren hunderte Aufnahmen – von unterschiedlichen Standpunkten und aus verschiedenen Blickwinkeln. Aus Sicht der Informatiker stellt diese Datenmenge einen einzigartigen Schatz dar. Ihr Plan: Sie wollen mit Hilfe einer von ihnen entwickelten Software aus den zweidimensionalen Fotos ein dreidimensionales Modell erstellen. Erste Tests vor Ort mit einer heutigen Kamera haben gezeigt, dass 50 Aufnahmen, halbkreisförmig um ein Objekt herum aufgenommen, ausreichen, um solch ein 3D-Modell mit hoher Detailtreue zu erstellen. Ob der historische „Bilderschatz“ dafür tatsächlich ausreicht, ist noch offen. „Viele der historischen Aufnahmen sind unscharf und weisen wenig Kontrast auf“, sagt Florian Niebling. Das mache die Rekonstruktion für die Software schwierig.
Der Beitrag der Kunsthistoriker
Die geschichtswissenschaftliche Seite in dem Projekt vertreten der Kunsthistoriker Professor Stefan Bürger und dessen Mitarbeiterin Dr. Kristina Friedrichs. Im Zentrum ihres Interesses steht die Interaktion von Architektur, Mensch und Bild oder – in Stefan Bürgers Worten – die Fragen: „Wie bewegt der Stadtraum die Menschen und wie bewegt sich das Bild von der Stadt in ihren Köpfen?“
Natürlich will der Kunsthistoriker auch wissen, wie sich bestimmte Gebäude in Dresden im Laufe der Zeit verändert haben. Die Stadt an der Elbe bietet dafür reichlich Stoff – angefangen mit der Bautätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Wiederaufbau bis hin zum erneuten Abriss und Neubau in historischem Stil ganzer Gebäudezüge an prägnanten Plätzen nach der Wende.
Forschung an Kronentor und Prager Straße
Mit Hilfe der Fotografien aus dem Bestand der Deutschen Fotothek wollen die Wissenschaftler diese Veränderungen auf einer Zeitschiene sichtbar machen – und das möglichst im Dreidimensionalen. Dabei konzentrieren sie sich zunächst auf zwei Objekte: das Kronentor des Zwingers und die Prager Straße, eine prominente, fast schon platzartige Straße, die zwischen 1851 und 1853 als direkte Verbindung zwischen der Inneren Altstadt und dem heutigen Hauptbahnhof gebaut wurde.
Die Suche nach geeigneten Fotos für dieses Vorhaben im reichhaltigen Bestand der Fotothek steht am Anfang der Arbeiten – daran sitzt Kristina Friedrichs aktuell. Was das Kronentor angeht, ist Stefan Bürger zuversichtlich, dass eine dreidimensionale Rekonstruierung, wie von den Informatikern geplant, möglich sein wird. „Von ihm gibt es viele Fotos.“ Das sieht im Fall der Prager Straße anders aus: „Es könnte sein, dass es nur Aufnahmen von bestimmten Prachtansichten gibt, nicht aber von der gesamten Straße“, so Bürger. Überhaupt sei er gespannt, ob sich das Verfahren prinzipiell für größere Räume eignet und wie viele Fotos dafür tatsächlich benötigt werden.
Fotos bestimmten das Image
Aber auch wenn es nur Bilder von Prachtansichten gibt und unschöne Ecken ausgeblendet werden, ist das für den Kunsthistoriker interessant: „Das Foto ist Ergebnis eines Verhaltens und gibt Auskunft über Stadtidentitäten“, sagt Bürger. Häufig fotografierte Ansichten können das Image einer Stadt bestimmen und sogar die Entwicklung einer Stadt beeinflussen. Der Wiederaufbau der Frauenkirche zwischen 1995 und 2005 sei dafür ein gutes Beispiel: „Die Sichtbarkeit der Kuppel war damals ein oft genanntes Argument. Sie sollte das Bild der Stadt wieder komplettieren.“
Wie oft wird ein bestimmtes Objekt fotografiert? Welcher Standort wird dabei bevorzugt? Welche Absicht steckt dahinter? Solche und weitere ähnliche Fragen hoffen die Kunsthistoriker im Rahmen des Forschungsprojekts beantworten zu können. Obwohl das nicht unbedingt das primäre Ziel ist: „Momentan geht es darum mit Hilfe der Informatik ein bestimmtes Werkzeug zu entwickeln. Wir sollen dabei sicherstellen, dass dieses Werkzeug am Ende für unsere Zwecke nutzbar und auf andere Anwendungen übertragbar ist“, sagt Stefan Bürger.
Egal, wie das Projekt am Ende ausgeht: Für den Kunsthistoriker ist die Disziplinen übergreifende Zusammenarbeit auf jeden Fall ein Gewinn: „Wir lernen sehr viel voneinander. Schon das ist ein Erfolg!“
Kontakt
Dr. Florian Niebling T: (0931) 31-88343, florian.niebling@uni-wuerzburg.de
Prof. Dr. Stefan Bürger, T: (0931) 31-84650, stefan.buerger@uni-wuerzburg.de