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Historistische Architektur im Fokus

08.11.2022

Wie umgehen mit historistischer Architektur? Das haben Studierende der Kunstgeschichte mit ihrem Professor Stefan Bürger hinterfragt. Aus ihrer Arbeit ist ein Buch entstanden.

Beispiel für eine einfache Farbkorrektur am Haus Bischofsweg 40 in der Dresdener Neustadt, simuliert am Computer: Sockelzone, Brüstungsfelder und Zwischenräume der Fensterrahmungen und des Dachgebälks wurden eingefärbt (rechts). Damit werden die Zusammenhänge zwischen Fuß-Rumpf-Kopf des Fassadenaufbaus und die mittlere Akzentuierung durch die Fenstergruppe verbessert.
Beispiel für eine einfache Farbkorrektur am Haus Bischofsweg 40 in der Dresdener Neustadt, simuliert am Computer: Sockelzone, Brüstungsfelder und Zwischenräume der Fensterrahmungen und des Dachgebälks wurden eingefärbt (rechts). Damit werden die Zusammenhänge zwischen Fuß-Rumpf-Kopf des Fassadenaufbaus und die mittlere Akzentuierung durch die Fenstergruppe verbessert. (Bild: Stefan Bürger, Bearbeitung: Francine Selms / Universität Würzburg)

Historismus: Darunter versteht man das Phänomen, dass Architektur und Kunst die Stilrichtungen vergangener Zeiten wiederaufleben lassen. Stefan Bürger, Professor für Kunstgeschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), hat sich diesem Phänomen zusammen mit Studierenden in einem Lehr-Lern-Projekt genähert. Es ging darum, am Beispiel der Dresdener Neustadt Gestaltungskriterien historistischer Architektur herauszuarbeiten.

Aus dem Projekt ist ein Buch entstanden. Es heißt „Ornament und Vergebung“ und ist seit September 2022 auf dem Markt. Wie der Verlag im Klappentext schreibt, könne das Buch zu einer Sichtweise beitragen, die dem künftigen Umgang mit historischer Bausubstanz förderlich ist. Wie es zu dem Projekt kam und mit wie viel Unverständnis heute mit historistischer Architektur umgegangen wird, beschreibt Stefan Bürger für einBLICK in einem Text, der auch persönlich gefärbt ist.

In der Neustadt gelebt, gearbeitet und gefeiert

Stefan Bürger: „In diesem Buch laufen viele biografische Fäden zusammen: In meinem ersten Berufsleben als Maler im Volkseigenen Betrieb VEB Denkmalpflege Erfurt habe ich etliche Fassaden gestrichen. Nicht dick und deckend mit optisch massiver Dispersionsfarbe, sondern mit vielen wässrigen Kalkanstrichen, die auf das Auge angenehm, lebendig und belebend wirken.

Im zweiten Berufsleben als Restaurator nahm ich Fassungsuntersuchungen auch an historistischen Gebäuden vor. Ich erhob Befunde, rekonstruierte einstige Wandfassungen und setzte diese bei denkmalpflegerischen Neugestaltungen gegebenenfalls um.

Im Bischofsweg 40, in der Dresdener Neustadt, habe ich zehn Jahre gelebt und gefeiert: Das Coverbild des Buches ist eine Widmung an das Haus und seine Bewohner:innen – und an das Architekturbüro, denn die Fassade ist eine der wenigen Gestaltungen, die ich persönlich als gelungen bezeichnen würde.

In der Neustadt lebe und arbeite ich seit 1997. Hier konnte ich Architekt:innen, Denkmalpfleger:innen, Farbgestalter:innen und natürlich auch Bewohner:innen kennenlernen, die seit der Wende an der Sanierung des historistischen, vom Krieg weitgehend verschonten und zu DDR-Zeiten vernachlässigten Wohngebietes beteiligt waren.

In meinem dritten Leben als Kunst- und Architekturhistoriker wurde mir bewusst, in welch nachhaltiger Weise ‚die Moderne‘ auf unser Verständnis historischer und historistischer Architektur eingewirkt hat.

Das oft Leblose wird als zeitlos akzeptiert

Ein vielfach rezipierter Text des Architekten Adolf Loos (1870-1933) heißt „Ornament und Verbrechen“. Er beschreibt kurz gefasst unter anderem das Kreuz als Urform des Ornaments, bestehend aus einer Horizontalen (der liegenden Frau) und einer Vertikalen (dem sie durchdringenden Mann). Davon ausgehend wurde alles, was aus solchen Elementen ornamental gebildet wurde, verdammt, auch als zu aufwändig und kostspielig, als den Menschen versklavend.

Diese Verdammung wirkt bis heute nach: Nicht nur, dass Fassaden heute selten dekoriert werden. In der Architektur wird auch kaum mehr über die ‚lebendigen‘ Verhältnisse von Vertikalen und Horizontalen, über das Spiel von Tragen und Lasten nachgedacht. Das vielfach Leblose haben wir als ‚zeitlos‘ akzeptiert.

Wenn heute Gestalter:innen, Verputzer:innen und Maler:innen historistische Fassaden erneuern, wird dieses Unverständnis sichtbar. Farbige Putzflächen zerteilen Architekturgestaltungen, die eigentlich zusammengehören: Verdachungen schweben kontaktlos über Fensterrahmungen. Einst aufgeputzte, steinfarbene Brüstungsfelder, die Fenster tragen und Achsen ausbilden können, wurden entfernt. Lastende Gesimse, die wie Kapitelle auf Säulen etwas Gewicht haben müssten, wurden fadendünn gestaltet.

Mühelos Unterstützung gefunden

Von diesem Befund ausgehend kam es zur Überlegung, mit einem Lehr-Lern-Projekt im Fach Kunstgeschichte an der JMU Gestaltungskriterien historistischer Architektur herauszuarbeiten. Als Ziel stand uns vor Augen, vielleicht eine Art Handreichung zu erarbeiten, die Verantwortliche bei künftigen Gestaltungen nutzen könnten.

Offenkundig wurde dieses Ziel als gewinnbringend empfunden, den beinahe mühelos fanden wir zahlreiche Projektpartner:innen, die die Studierenden unterstützen wollten: Denkmalpflege, Stadtplanungsamt, freie Architekturbüros, Farbfirmen samt Farbstudios, das Medienzentrum der TU Dresden, Deutsche Fotothek, Stadtmuseum, Stadtteilbewohner:innen und viele mehr.

Was die Studierenden zu tun hatten

Die Aufgabe der Studierenden bestand darin, an den Klinkerfassaden, die ohne farbige Putze gestaltet sind, die Architektursprache zu studieren und zu überlegen, wie sich deren Gestaltungszusammenhänge an verputzten Fassaden widerspiegeln müssten. Befunde und Beobachtungen wurden auch aus historischen Fotosammlungen oder restauratorischen Farbfassungsuntersuchungen zusammengeführt.

An ausgesuchten Beispielen wurden die Beobachtungen beschrieben und mit Bildbearbeitungen visualisiert. Die Studierenden fragten auch danach, was mit den Gestaltungen, auch über einzelne Fassaden hinaus, bewirkt werden sollte. Und sie ergründeten, wo auffällige Gestaltungen ihre stilistischen Wurzeln haben könnten.

Das Buch wirbt auch um Verständnis

Herausgekommen ist mehr als eine Handreichung. Das mit studentischer Beteiligung, insbesondere durch die Mitarbeit von Katharina Marschall und Francine Selms entstandene Buch gibt auch Einblick in die historischen Prozesse des Umgangs mit historistischer Baukunst, zum Beispiel in die sich wandelnden Gestaltungssatzungen, in die Nachkriegsentscheidungen, in die rasante Stadtteilentwicklung der Nachwendezeit.

Das Buch macht verständlich, warum Fassaden heute so aussehen wie sie aussehen. Daher wirbt es auch für die Rehabilitation historistischer Gestaltungen und um Verständnis für all jene Akteur:innen und Entscheidungen, die das heutige Aussehen historistischer Fassadengestaltungen mitbestimmten.“

Publikation

Ornament und Vergebung. Zum Verständnis von Architekturgestaltungen und Farbfassungen des Historismus am Beispiel der Äußeren Neustadt Dresden. Herausgeber: Stefan Bürger, 144 Seiten, 194 meist farbige Abbildungen, Sandstein Verlag Dresden 2022, ISBN 978-3-95498-706-1, 24 Euro.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

Kontakt

Prof. Dr. Stefan Bürger, Institut für Kunstgeschichte, Universität Würzburg, stefan.buerger@uni-wuerzburg.de

Von Robert Emmerich

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