Luthers Thesenanschlag – ein Mythos?
27.10.2020Am 31. Oktober 1517 hat Martin Luther seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche genagelt und damit die Reformation ausgelöst. So war das – oder doch nicht?
„Jedes Jahr am 31. Oktober feiert die ganze Welt Halloween. Die ganze Welt? Nein. Ein kleiner unbeugsamer Haufen von Protestanten leistet immer noch Widerstand und ist überzeugt, dass an diesem Tag etwas ganz Anderes gefeiert werden muss: der Reformationstag. Dieser Tag hat mit Martin Luther und mit einem Mythos zu tun.“
Mit diesen Worten beginnt Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn von der Julius-Maximilians-Universität (JMU) das Video, mit dem er vor einigen Tagen seinen YouTube-Kanal „Mythistory“ eröffnet hat.
In diesem Kanal will sich der zweifach promovierte Wissenschaftler (Geschichte und evangelische Theologie) mit Geschichtsmythen beschäftigen. Denn sein zentrales Anliegen als Forscher ist es, die Mechanismen und Bedingungen zu verstehen, unter denen sich Mythen bilden. Um dieses Thema dreht sich auch sein Habilitationsprojekt, das er seit 2019 am Institut für Geschichte der JMU verfolgt.
Protest gegen den Ablasshandel der Kirche
In Hasselhorns Reformationsvideo geht es um die Frage, ob Martin Luther am 31. Oktober 1517 tatsächlich ein Plakat mit 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg befestigte. Mit diesem Akt wollte Luther gegen den Ablasshandel der Kirche protestieren, die damit seiner Meinung nach den Gläubigen das Geld aus der Tasche zog.
Mithilfe der Playmobil-Figur Martin Luthers spitzt Hasselhorn den gängigen Reformations-Mythos im Video zu: „Der Thesenanschlag erschütterte die ganze westliche Christenheit und ließ das europäische Mittelalter einstürzen. Die Kirche verurteilte Luther als Ketzer, doch halb Europa schloss sich ihm an. Es entstand die evangelische Kirche. Aber: Stimmt die Story vom Thesenanschlag überhaupt?“ Diese Frage beantwortet Hasselhorn in seinem Video.
Der JMU-Wissenschaftler geht dabei von dem katholischen Kirchenhistoriker Erwin Iserloh aus. Der trat vor 60 Jahren mit einem Vortrag an die Öffentlichkeit, in dem er behauptete, Luthers „Kirchensturm“ samt Thesenanschlag habe gar nicht stattgefunden. Diese Geschichte sei erst später erfunden worden. Dafür lieferte Iserloh fünf Hauptargumente, die Hasselhorn hinterfragt, entkräftet oder widerlegt.
Thesenanschläge waren Alltag im Universitätsleben
Ein Argument Iserlohs: Im schriftlichen Werk, das Luther hinterlassen hat, finde sich kein einziges Wort über den Thesenanschlag. Dazu Hasselhorn: Thesenanschläge seien an der Wittenberger Universität so alltäglich gewesen, dass es Luther vielleicht gar nicht für nötig befand, etwas darüber aufzuschreiben.
Mit Thesenanschlägen kündigte man an den Universitäten dieser Zeit an, dass man über ein bestimmtes Thema öffentlich diskutieren wollte – eine solche Diskussion über Luthers Thesen fand in Wittenberg aber nie statt. Für Iserloh ist das ein weiterer Beleg dafür, dass der Thesenanschlag erfunden wurde. Auch in diesem Punkt widerspricht Hasselhorn: „Luther selbst schreibt, er habe zur Disputation aufgerufen, aber niemand sei gekommen. Und er selbst gab den Plakatdruck der Thesen in Auftrag, dafür haben wir überzeugende Indizien.“
Punkt für Punkt widerlegt der JMU-Historiker in seinem Video Iserlohs Argumente. Entscheidend ist für ihn ein Quellenfund aus dem Jahr 2006: Georg Rörer, der Privatsekretär Luthers, bestätigt Anfang der 1540er-Jahre den Thesenanschlag. Damit liegt – anders als zu Iserlohs Zeiten – inzwischen ein Zeugnis aus dem engsten Umfeld und zu Lebzeiten Luthers vor.
Viele Reformationshistoriker halten es laut Hasselhorn daher heute wieder für wahrscheinlich, dass der Thesenanschlag stattgefunden hat. Er selbst stellt mit Augenzwinkern fest: „Ernsthafte Zweifel sind nicht mehr möglich.“ Diese Auffassung unterstreicht er im Video auch optisch. Auf seinem T-Shirt ist ein Bild Luthers zu sehen und der passende Spruch: „Nailed It“.
Kontakt
Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Universität Würzburg, T +49 931 31-80922, benjamin.hasselhorn@uni-wuerzburg.de