Neues Leben für die Alte Augenklinik
19.12.2017Eine Kooperation der Fraunhofer-Gesellschaft mit der Universität bringt die Medizinforschung in Würzburg weiter voran: In der Alten Augenklinik entsteht eine Stammzellprozesstechnik.
Zum 1. Dezember 2017 ging in Würzburg das Forschungsprojekt „Prototypische Materialentwicklung für Stammzellanwendungen in Bioreaktoren“ der Fraunhofer-Gesellschaft an den Start. Das Projekt der Fraunhofer-Institute für Silicatforschung ISC (Würzburg) und für Biomedizinische Technik IBMT (Sulzbach/Saarland) setzt den Startschuss für den Aufbau einer Stammzellprozesstechnik in Würzburg.
Im weiteren Verlauf soll in der Alten Augenklinik am Röntgenring, die seit Jahrzehnten leer steht, ein Projektzentrum aufgebaut werden. Für dieses Vorhaben wird die Julius-Maximilians-Universität (JMU) der Fraunhofer-Gesellschaft das Gebäude in den kommenden 30 Jahren mit einer Option für weitere zehn Jahre zur Nutzung überlassen.
Medizinische Wirkstoffe individuell testen
Das Zentrum soll das Testen medizinischer Wirkstoffe bei der industriellen Entwicklung neuer Arzneimittel revolutionieren. Noch ist der Weg zu neuen Wirkstoffen lang: Potenzielle Therapeutika müssen in langwierigen Verfahren auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet werden. In der Regel werden dafür Zellkulturen von Tieren verwendet und Tierversuche durchgeführt – die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen ist jedoch mit Unsicherheit behaftet.
Testsysteme auf der Basis menschlicher Stammzellen, die entsprechende Organe simulieren, gelten als zuverlässiger. Geeignete Stammzellen lassen sich heute aus Haut- oder anderen Körperzellen des Menschen herstellen. Sie haben den Vorteil, dass sie sich unter definierten Bedingungen zu genau den Zelltypen weiterentwickeln, deren Reaktion auf Wirkstoffe getestet werden soll. Außerdem kann man mit ihnen Zellkulturen von einzelnen Patienten anlegen und damit ganz individuelle Testsysteme schaffen.
Knowhow für den Aufbau von Zellkulturen
„Was bislang fehlt, ist eine zuverlässige und leistungsfähige Prozesstechnik, mit der das auch in einem für die industrielle Pharmaforschung relevanten Maßstab umgesetzt werden kann. Diese Lücke wollen wir nun schließen“, so Professor Heiko Zimmermann, Leiter des Fraunhofer IBMT. Das Institut arbeitet seit über zehn Jahren erfolgreich auf dem Gebiet der Stammzellforschung. Es bringt wesentliches Knowhow für die Hochskalierung der Zellkultur und für die Entwicklung effizienter Differenzierungsabläufe mit ins Würzburger Projektzentrum.
Der Standort Würzburg ist mit Bedacht gewählt. „Das Fraunhofer ISC gibt mit seiner Kompetenz im Bereich der Biomaterialien wichtiges Knowhow für die Herstellung von Scaffold-Strukturen und Kontaktoberflächen, wie sie für die Zellkulturen benötigt werden. Außerdem stellen wir erste Biolabors und die Infrastruktur für den Aufbau einer automatisierten Produktion an unserem Standort in Würzburg zur Verfügung“, erläutert Institutsleiter Professor Gerhard Sextl.
Wissenstransfer zur anwendungsnahen Entwicklung
Durch die kürzlich erfolgte Integration des Fraunhofer-Translationszentrums für Regenerative Therapien in das Fraunhofer ISC erweitert sich laut Sextl die unterstützende Expertise für biologisierte Medizinprodukte. „Die Ansiedlung des neuen Forschungsschwerpunkts Stammzellprozesstechnik am ISC stellt im engen Verbund mit der Julius-Maximilians-Universität und dem Universitätsklinikum eine wertvolle Bereicherung für den Forschungsstandort Würzburg dar. Die enge interdisziplinäre Kooperation mit Lehrstühlen und Einrichtungen in der Medizin sowie den Lebens- und Naturwissenschaften ermöglicht einen direkten Wissenstransfer zur anwendungsnahen Entwicklung modernster Technologien im Umgang mit Stammzellkulturen und Biomaterialien“, so Universitätspräsident Professor Alfred Forchel.
„Das zukünftige Projektzentrum könnte damit ein integriertes Portfolio für die Entwicklung anwendungsspezifischer Hochdurchsatz-Produktionsabläufe für Stammzellapplikationen anbieten“, ergänzt Professor Zimmermann. Auch mit den beiden großen bayerischen Forschungsverbünden CARE und ForIPS arbeite man eng zusammen. So werde eine in Europa bislang einzigartige Kombination von Forschung und Entwicklung für Bioreaktoren, Tissue-Engineering-Scaffolds und neuartiger, autonomer Zellproduktion zusammengebracht. Damit sollen standardisierte Produktionsprozesse für Stammzell-Kulturen geschaffen werden, die sich individuell je nach Anwendungsgebiet für die Arzneimittelforschung anpassen und spezifizieren lassen. Designierte Geschäftsführerin für das Projektzentrum ist Dr. Julia Neubauer vom Fraunhofer IBMT.
Drei Millionen Euro für das Projektteam
„Der Lückenschluss zwischen der Entwicklung individualisierter Testsysteme für Wirkstoffe im Labor einerseits und ihrem technischen Einsatz in der Pharmaentwicklung andererseits ist eine der größten Herausforderungen für die künftige Wettbewerbsfähigkeit in der Pharmaindustrie“, unterstreicht Professor Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft.
Mit dem Projektzentrum Stammzellprozesstechnik in Würzburg habe sich die Fraunhofer-Gesellschaft das Ziel gesetzt, künftig eine integrierte Lösung in diesem Sektor anzubieten. Für das nun gestartete Projekt zum Aufbau des Zentrums werden dem Projektteam drei Millionen Euro zur Verfügung gestellt; sie stammen zu je 50 Prozent vom Freistaat Bayern und von der Fraunhofer-Gesellschaft.
Sanierung der Alten Augenklinik
Mit der Integration des Fraunhofer-Translationszentrums Regenerative Therapien in das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC und dem erweiterten Nutzungs- und Forschungskonzept zur Stammzellprozesstechnik wurde der Weg für die Sanierung der Alten Augenklinik der Universität geebnet. Universität und Fraunhofer-Gesellschaft werden vertraglich vereinbaren, dass Fraunhofer das Gebäude in den kommenden 30 Jahren mit einer Option für weitere zehn Jahre nutzen kann.
Das Vorhaben einer baulichen Erweiterung für die langfristige Etablierung der zukunftsweisenden Forschung und Entwicklung des Fraunhofer ISC im Bereich Gesundheit kann 2018 gestartet werden. In seiner Novembersitzung hat das für die strategischen Baumaßnahmen zuständige Gremium von Bund und Ländern beschlossen, die Finanzmittel für die Erweiterung des Fraunhofer ISC in Würzburg freizugeben.
Für Würzburg bedeutet das grünes Licht für die seit langem diskutierte Sanierung der Alten Augenklinik. So kann das markante Gebäude an der Wissenschaftsmeile Röntgenring nach vielen Jahren des Leerstands nicht nur grundsaniert, sondern auch in einen für die wissenschaftliche Nutzung geeigneten Zustand versetzt und mit modernstem wissenschaftlichen Gerät ausgestattet werden. Dafür werden Bundes- und Landesmittel sowie Geld aus dem Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) der Europäischen Union in Höhe von 23 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Geschichte der Alten Augenklinik
Das Gebäude am Röntgenring 12 wurde für die Augenklinik der Universität gebaut und am 1. Mai 1901 eröffnet. Im Zweiten Weltkrieg kaum beschädigt, diente es eine Zeitlang zur Unterbringung von Soldaten. Bei Kriegsende wurde es zunächst durch amerikanische Truppen besetzt, später wieder als Augenklinik genutzt, bis diese 1970 in den Stadtteil Grombühl verlegt wurde.
Danach wurde das Gebäude am Röntgenring bis Anfang der 1980er-Jahre von der Universitäts-Nervenklinik genutzt. Nach deren Auszug stand es weitgehend leer. Saniert wurden seitdem der Souterrain für eine Mensa des Studentenwerks und der angrenzende historische Hörsaalbau (Oswald-Külpe-Hörsaal).
Perle fürs Bauensemble und die Wissenschaft
Mit dem Konzept für die Nutzung durch das Fraunhofer ISC und seine Partner konnte die Fraunhofer-Gesellschaft nun Geld für die umfassende Sanierung und den Ausbau des historischen Gebäudes zu einem modernen Wissenschaftszentrum einwerben. „Der Wissenschaftsstandort Würzburg gewinnt so neben einer bald wieder strahlenden Perle im baulichen Ensemble des Röntgenrings auch ein neues Schwergewicht für seinen Forschungsschwerpunkt Gesundheit im Bereich der anwendungsorientierten Forschung für Medizintechnik, Biotechnologie und Arzneimittelentwicklung“, freut sich Sextl.