Rückkehr nach 78 Jahren
12.12.2023Ein seit 1945 vermisstes Zeichnungsalbum ist ins Martin von Wagner Museum zurückgekehrt. Der erste Fall dieser Art seit 52 Jahren gibt Hoffnung auf weitere Rückgaben von geraubtem Kunstgut.
Die Bestände des Martin von Wagner Museums blieben von den Wirren nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht verschont. Zwar konnten viele – wenn auch längst nicht alle – Werke rechtzeitig evakuiert werden, bevor die Alte Universität zerstört wurde, die das Universitätsmuseum früher beherbergte.
Doch an den Orten, wo diese Werke eingelagert wurden, waren sie vor Plünderungen nicht vollständig geschützt. Das Martin von Wagner Museum erlitt sogar die größten Verluste aller deutschen Museen in der amerikanischen Zone, auch wenn Teile davon noch 1946 sichergestellt werden konnten.
Unterschlupf in zwei Banktresoren
Das Gros der Graphischen Sammlung überdauerte die Bombardierung Würzburg in den Tresoren zweier Würzburger Banken, der Nachlass Martin von Wagners aber wurde ins Amtsgericht Aub verbracht und dort nicht ordentlich bewacht. Zu ihm gehörten die Skizzenbücher und Zeichnungsalben aus seinem Besitz, von denen 34 abhanden kamen.
Eines von ihnen – ein Album mit 76 großformatigen Rötelzeichnungen des Tiepolo-Mitarbeiters Georg Anton Urlaub – wurde 1970 bei Sotheby’s in London angeboten. Es war von amerikanischen Soldaten entwendet und bei dem Auktionshaus von einem Privatmann aus Texas eingeliefert worden.
Durch geschicktes Verhandeln erwirkten die Universitätsleitung und die Deutsche Botschaft in London damals die Rückgabe an das Martin von Wagner Museum. Als der zwischenzeitliche Besitzer 1971 das Urlaub-Album persönlich nach Würzburg brachte, hatte er noch vier weitere Bände als Geschenke im Gepäck, die ebenfalls Beutegut gewesen waren.
Auflösung eines Cold Case
Weiterhin wurden jedoch 29 Alben vermisst. Seit kurzem sind es nurmehr 28, denn das Skizzenbuch WS 133, das laut den alten Inventaren des Museums vom „Jüngeren Urlaub“ stammt und von Martin von Wagner einst selbst beschriftet wurde, konnte an seinem ursprünglichen Aufbewahrungsort in Empfang genommen werden.
„Unter einem ‚Cold Case‘ verstehen wir ja normalerweise Ermittlungen zu Kapitalverbrechen“, sagt der sichtlich erfreute Direktor der Neueren Abteilung, Professor Damian Dombrowski. „Doch natürlich haben wir unsere Kriegsverluste auf dem Radar. Das sind unsere kalten Fälle, die ab und zu dann doch wieder warm werden – so wie bei diesen Zeichnungen, die 1945 mehr zufällig gerettet wurden und dann jahrzehntelang einfach in der Familie der Finder verblieben sind.“
Von dieser Familie war das Zeichnungsalbum dem Ansbacher Kunsthändler Christian Eichinger offeriert worden. Der lokale Kunstverein und das Markgrafenmuseum Ansbach wirkten mit dem Martin von Wagner Museum und dem Justiziariat der Universität Würzburg zusammen, damit es rasch zurück ins Würzburger Universitätsmuseum gelangte.
Kein Zweifel an der Herkunft des Albums
„Den Ansbacher Kollegen gebührt für ihre Hilfe hohe Anerkennung“, bemerkt Dombrowski dankbar. Der Stempel des Martin von Wagner Museums, die Aufschrift „N° 133“ auf dem Buchdeckel und der Abgleich mit dem Vorkriegsinventar ließen an der Herkunft des Albums keinen Zweifel.
Welcher Künstler verbirgt sich hinter der Bezeichnung als „jüngerer Urlaub“? Am Ort der Wiederentdeckung des Albums wurde zunächst Georg Anton Abraham Urlaub ins Spiel gebracht, dessen Vater Hofmaler in Ansbach war. Wolfgang Kümper, der seit vielen Jahren über die bekannte und weitverzweigte Künstlerfamilie Urlaub forscht, hält jedoch einen anderen Künstler für plausibler.
Sowohl der Stil als auch die Provenienz der Zeichnungen legen es Kümper zufolge nahe, dass sie von Johannes Andreas Urlaub stammen. Der 1735 in Thüngersheim geborene Spross der Malerdynastie war ein Neffe von Georg Anton Urlaub, der in der venezianischen Werkstatt Tiepolos tätig war, ehe er 1750 mit diesem an seinen vorherigen Schaffensort Würzburg zurückkehrte.
Eine weitere Rezeptionsstufe hinzugefügt
Der ältere Urlaub – also Georg Anton – hat nicht nur solche Zeichnungen hinterlassen, die Giambattista Tiepolo und sein Sohn Giandomenico ihm geschenkt hatten (und schließlich in den Besitz Martin von Wagners gelangten); er durfte auch Blätter von ihnen kopieren. Darunter sind Zeichnungen nach sogenannten ‚ricordi‘ oder Merkskizzen, die Giandomenico nach Motiven seines Vaters gezeichnet hat.
„Der Wert des nun zurückgekehrten Skizzenbuches WS 133 besteht darin, dass es der zweifachen Rezeptionsstufe eine dritte hinzufügt“, erläutert Dombrowski, der sich mit den Urlaub-Zeichnungen des Martin von Wagner Museums im Rahmen der Tiepolo-Ausstellung 2020/21 intensiv befasst hat. „Der jüngere Urlaub – wahrscheinlich Johannes Andreas – kopierte Zeichnungen, die sein Onkel nach ‚ricordi‘ Giandomenicos angefertigt hatte, die wiederum nach Entwürfen Giambattistas entstanden waren.“
Dieser Vorgang, so der Kunsthistoriker weiter, erlaube einen wertvollen Einblick in die Werkstattpraxis des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts, und dies umso mehr, als die Graphische Sammlung des Martin von Wagner Museums beides versammelt, Vor- und Nachbilder – die Motive in verschiedenen Zeichnungsalben entsprechen sich.
Hoffnung auf weitere Rückgaben
Johannes Andreas Urlaub war Lehrling von Franz Ignaz Roth, neben Georg Anton Urlaub der engste Vertraute Tiepolos in Würzburg. In der inspirierenden Atmosphäre der Tiepolo-Werkstatt müssen ihm auch die Zeichnungen seines Onkels zugänglich gewesen sein, die er im Skizzenbuch WS 133 reproduzierte.
Die Rötelzeichnungen offenbaren nach Ansicht Dombrowskis eine noch recht unsichere Hand. Vermutlich sind sie noch vor dem Tod Georg Anton Urlaubs 1758 entstanden, als sein Neffe gerade erst vierzehn Jahre alt war. Jedenfalls wird das Album einen Beitrag zur Erforschung der Malerei in Franken zwischen Barock und Klassizismus leisten.
Für das Universitätsmuseum noch wichtiger: Die Rückkehr nach 78 Jahren nährt die Hoffnung, dass weitere Teile des Wagner-Nachlasses, die seit Kriegsende als verschollen gelten, eines Tages die Sammlung doch wieder komplettieren. Vorerst ist geplant, den Heimkehrer in einer kleinen Sonderausstellung zu ehren. Öffentlich präsentiert wird es schon in der Winckelmannfeier des Martin von Wagner Museums am Dienstag, 12. Dezember (Toscanasaal der Residenz, Beginn: 18 Uhr).