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Vom Seeigel zur Krebsentstehung

10.04.2018

Lange schlummerten sie im Keller des Biozentrums, nun wurden sie publiziert: Gemeint sind wissenschaftshistorisch bedeutsame mikroskopische Präparate, die der Zoologe Theodor Boveri vor über 100 Jahren an der Zoologischen Station Neapel angefertigt hat.

Boveris Originalpräparate seiner Seeigelversuche, aufbewahrt in vier eleganten Kästen in Buchform. (Fotos: Ulrich Scheer)
Boveris Originalpräparate seiner Seeigelversuche, aufbewahrt in vier eleganten Kästen in Buchform. Auf der Innenseite der Deckel hat Boveri mit eigener Hand den Inhalt notiert. Leider vergilben die Präparate mit der Zeit. (Fotos: Ulrich Scheer)

Die Frage war zu Beginn der wissenschaftlichen Karriere von Theodor Boveri (1862-1915) heiß umstritten: Wie werden die Merkmale eines Organismus vererbt? Für Boveri, der 1893 im Alter von erst 30 Jahren als Professor für Zoologie an die Universität Würzburg berufen wurde, war klar: Dieses Problem ist nur experimentell lösbar.

Seine Untersuchungen über die Vorgänge bei der Befruchtung von Eizellen hatten Boveri bereits vermuten lassen, dass Chromosomen die Träger der Erbanlagen sind. Doch wie ließ sich das eindeutig beweisen? Dazu müsste man Eizellen mit verändertem Chromosomenbestand herstellen und deren Entwicklung verfolgen. Leicht gesagt! Doch Boveri gelang die Lösung durch einen vergleichsweise einfachen Trick: die Doppelbefruchtung von Seeigel-Eiern.

Entwicklung von Seeigel-Eiern in Neapel erforscht

Boveri war mehrmals zu Forschungsaufenthalten an der Zoologischen Station in Neapel, wo er sich mit der Frühentwicklung von Seeigeln beschäftigte. Frisches Untersuchungsmaterial stand dort in den Winter- und Frühjahrsmonaten ausreichend zur Verfügung. Aus ausgewachsenen Seeigeln lassen sich leicht große Mengen Eier und Spermien gewinnen. Mischt man beides im Reagenzglas, kommt es zur Befruchtung, die Eier teilen sich und die Entwicklung der Embryonen beginnt. Diese Vorgänge lassen sich gut unter dem Mikroskop verfolgen, da Seeigel-Eier klein und durchsichtig sind.

Gibt man allerdings zu viele Spermien zu den Eiern, kommt es häufig vor, dass zwei Spermien in ein Ei eindringen statt wie im Normalfall nur eines. Im Winter 1901/02 untersuchte Boveri die Folgen dieses Phänomens.

Doppelt befruchtete Eizellen verhalten sich anders

Er stellte fest, dass sich eine doppelt befruchtete Eizelle gleichzeitig in vier (statt normalerweise erst in zwei) Zellen teilt und dass dabei die Chromosomen chaotisch und ungleichmäßig verteilt werden. Danach teilen sich die vier Zellen normal weiter und geben ihren jeweiligen Chromosomenbestand unverändert an ihre Nachkommen weiter.

Die entstehenden Embryonen bestanden somit aus einem Mosaik von Zellen mit vier unterschiedlichen Chromosomensätzen. In Boveris Worten: „Wir geben der Zelle einen Kern, dem einzelne Teile fehlen, und verfolgen die Wirkung dieses Defektes.“

Abnormer Chromosomenbestand (Aneuploidie) als Ursache von Entwicklungsstörungen und Krebs

Durch mikroskopische Analysen der entstehenden Embryonen konnte Boveri zeigen, dass ein kompletter Chromosomensatz für die Normalentwicklung notwendig ist und dass die Abwesenheit bestimmter Chromosomen zu unterschiedlichen Entwicklungsstörungen führte. Meist starben die Seeigel-Larven ab, andere zeigten Gewebe- und Organdefekte. Besonders bedeutsam waren Fälle, in denen es zu krebsartigen Zellwucherungen kam.

Boveri war davon überzeugt, dass seine an den Seeigel-Larven gewonnenen Befunde generelle biologische Prinzipien widerspiegeln und auch für menschliche Zellen gelten. Das führte ihn zu seinem bahnbrechenden Konzept der chromosomalen (genomischen) Instabilitat als Ursache von unkontrolliertem Wachstum und Tumorentstehung. Er beschrieb es kurz vor seinem Tod unter dem Titel „Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren“ und es sollte sich später bestätigen.

Wichtigste Präparate sind fotografiert und publiziert

Mehr als 600 mikroskopische Präparate, die Boveri in Neapel anfertigte, sind heute noch erhalten. Sie wurden vor einigen Jahren bei Aufräumarbeiten im Kellerabteil des Lehrstuhls für Zell- und Entwicklungsbiologie im Biozentrum der Universität Würzburg gefunden. Die Präparate sind von Boveri handbeschriftet, datiert und lassen sich so den Experimenten zuordnen, die er mit seiner Frau Marcella von 1901 bis 1914 an der Zoologischen Station in Neapel durchführte.

Professor Ulrich Scheer, der den Lehrstuhl bis 2007 innehatte, fand die Präparate damals. Die wichtigsten davon hat er nun mit einem modernen Mikroskop fotografiert und die Aufnahmen im Jahr 2017 bei einem Symposium der Zoologischen Station Neapel vor internationalem Publikum präsentiert. Außerdem hat Scheer nun eine erste Auswertung der Präparate in einem Symposiumsband mit dem Thema „From Boveri to Davidson: Embryological approaches to genomic function“ veröffentlicht.

Im Aufbau: das Boveri-Internetportal

Die mikroskopischen Präparate enthalten die experimentellen Grundlagen für Boveris Chromosomentheorie der Vererbung und Entwicklung. Chromosomen als Träger der Vererbung – das ist heute Allgemeinwissen, aber vor etwas mehr als einem Jahrhundert war es eine große Entdeckung.

Um die Leistungen Boveris zu würdigen und um den Zugriff auf seine Publikationen zu erleichtern, haben Ulrich Scheer und sein Nachfolger Markus Engstler mit dem Aufbau eines Boveri-Internetportals begonnen. Dort wird nicht nur Leben und Arbeit Boveris in Würzburg beschrieben, sondern es bietet auch eine „Virtual Boveri Library“ mit freiem Zugang zu all seinen Publikationen, von denen manche bisher nur schwer erhältlich waren.

Farbtafeln mit ihren künstlerisch hochwertigen Abbildungen – Boveri war bekannt als sehr guter Zeichner – wurden hochauflösend gescannt und sind ebenfalls online verfügbar. Das Portal wird noch weiter ausgebaut mit dem Ziel, weitere Dokumente einzubinden. Auch ein „virtuelles Mikroskop“ ist geplant, mit dem man ausgewählte Originalpräparate selbst durchmustern kann.

Weblinks

Website des Lehrstuhls für Zell- und Entwicklungsbiologie

Theodor-Boveri-Internetportal

Publikation

Boveri's research at the Zoological Station Naples: Rediscovery of his original microscope slides at the University of Würzburg. Ulrich Scheer. Marine Genomics (2018)  https://doi.org/10.1016/j.margen.2018.01.003

Kontakt

Prof. Dr. Ulrich Scheer, Lehrstuhl für Zell- und Entwicklungsbiologie, Theodor-Boveri-Institut, Biozentrum der Universität Würzburg, T +49 931 31-84251, scheer@biozentrum.uni-wuerzburg.de

Prof. Dr. Markus Engstler, Lehrstuhl für Zell- und Entwicklungsbiologie, Theodor-Boveri-Institut, Biozentrum der Universität Würzburg, T +49 931 31-80060, markus.engstler@biozentrum.uni-wuerzburg.de

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