Intern
  • Eine Studentin fährt auf ihrem Roller zur Uni.
  • none
  • none

Zwischen Himmel und Hölle

26.07.2022

Wie die Gegensätze von Utopie und Dystopie die Kultur und Literatur Lateinamerikas prägen, dazu forscht Christian Wehr. Im Rahmen zweier Forschungsprojekte plant der Würzburger Romanistikprofessor eine umfassende Publikation.

Chichén Itzá ist eine der bedeutendsten Ruinenstätten im heutigen Mexiko. Ihre Ruinen stammen aus der späten Maya-Zeit.
Das Bild zeigt die Pyramide des Kukulkán aus der späten Mayazeit in Chichén Itzá, Mexiko. (Bild: Darvin Santos/Pixabay)

Opus Magnum, zu Deutsch: das Hauptwerk. So bezeichnet die VolkswagenStiftung ein Förderprogramm, das verdienten Professorinnen und Professoren einen bis zu drei Semestern währenden Freiraum für die Arbeit an einer umfangreichen wissenschaftlichen Publikation eröffnet.

„Das klingt schon etwas hochtrabend“, kommentiert Professor Christian Wehr die Bezeichnung des Formates schmunzelnd. Wehr hat an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg den Lehrstuhl für Spanische und Französische Literaturwissenschaften inne und beschäftigt sich zusätzlich auch mit der Literatur- und Filmgeschichte Lateinamerikas. In diesem Bereich bewegt sich das Forschungsprojekt, zu dem sein Antrag auf eine Opus-Magnum-Förderung bewilligt wurde. Der Titel lautet: „(Un-)Erlöste Geschichte: Messianismus und Globalisierung in der Literatur und Kultur Lateinamerikas.“

Fellowship in Heidelberg

Bevor sich Wehr ab dem Frühjahr 2023 ganz dem Projekt verschreibt, steht im kommenden Wintersemester zunächst ein mehrmonatiger Aufenthalt an der Universität Heidelberg auf dem Programm. Er wurde als Fellow an das Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien, kurz CAPAS, eingeladen, um dort mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt über ein gemeinsames Thema zu diskutieren. Währenddessen wird aus Drittmitteln eine Lehrstuhlvertretung finanziert.

„Das Umfeld ermöglicht es, sich – abseits der sonstigen Verpflichtungen an der Universität – mit Ruhe, Muße und vielen Austauschmöglichkeiten einem bestimmten Thema zu widmen. Darauf freue ich mich sehr und erhoffe mir einiges an Inspiration für mein Vorhaben.“

Im Anschluss an die Zeit in Heidelberg folgt das auf 18 Monate ausgelegte Publikationsprojekt, das auf über zehn Jahren Forschungsarbeit basiert.

Paradiesische Hoffnungen

Der Zusammenhang zwischen (post-)apokalyptischen Studien und der Geschichte Lateinamerikas mag nicht sofort klar sein, liegt aber bei genauerer Betrachtung auf der Hand. Christian Wehr erklärt: „Seit der Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas, in der etliche Historiker auch den Beginn der Globalisierung sehen, wurde die Geschichte des Subkontinentes immer wieder in engen Bezug zu biblischen Erklärungsmodellen gesetzt.“

Schon Kolumbus griff auf sie zurück, um die Erfahrung einer bis dahin unbekannten Wirklichkeit in vertraute Deutungsmuster zu überführen. Etliche seiner Aufzeichnungen zeigen, dass er der Überzeugung war, in Lateinamerika das irdische Paradies entdeckt zu haben. „In diesem wachsenden religiösen Eifer stilisierte sich Kolumbus zunehmend zu einer Art irdischer Erlöserfigur, einem Messias“, so Wehr.

Unterstützt wurde das messianische Sendungsbewusstsein des unter kastilischer Flagge segelnden Genuesen von einem historischen Zufall, denn 1492 wurde auch die Rechristianisierung der iberischen Halbinsel abgeschlossen. Dies stützte die Überzeugung, dass Spanien im Zeitalter der Gegenreformation eine führende Rolle zukam und den Status eines auserwählten Landes erlangte.

Apokalyptische Wirklichkeit

Schnell wich die utopische Endzeiterwartung jedoch einer grausamen Realität, denn die mutmaßliche Entdeckung des irdischen Paradieses mündete schon bald in flächendeckender Zerstörungen, die nunmehr mit Bildern der biblischen Apokalypse beschrieben und gedeutet wurden. „Dabei führten die Genozide an der indigenen Bevölkerung und die rücksichtslose Ausbeutung des Kontinents schon in der Frühen Neuzeit zu grundsätzlichen Diskussionen über die Legitimität der Kolonisierung und den Status der Menschenrechte.“

So war die Gründung der eigenen Kultur in der nachkolumbischen Zeitrechnung untrennbar mit dem Untergang einer vorhergehenden Welt verbunden. Bemerkenswert daran ist, dass die paradoxe Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende, von utopischem Beginn und apokalyptischem Niedergang das Geschichtsbewusstsein in Lateinamerika nachhaltig prägte: von der Kolonialzeit über die nachfolgenden Unabhängigkeitsphasen bis hin zu den jüngsten neoliberalen Reformen.

Von Kolumbus über die Unabhängigkeit bis zum Neoliberalismus

Dieses Zusammenspiel der Gegensätze tritt vor allem in den weiteren Globalisierungsschüben nach der conquista auf und avanciert so zum wiederkehrenden Deutungsmodell historischer Schlüsselphasen. Auch die großen Revolutionen und Unabhängigkeitsbewegungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren von utopischen Hoffnungen getragen, mündeten aber immer wieder in anhaltende Diktaturen und Gewaltherrschaften.

Ebenso standen die neoliberalen Öffnungen im 20. Jahrhundert anfangs im Zeichen großer Wohlstands- und Konsolidierungshoffnungen, bevor sie in neokoloniale Abhängigkeiten, Gewaltspiralen und Verarmungen zurückführten. Derartige Entwicklungen werden in der Essayistik, in der Literatur und später auch im Kino Lateinamerikas immer wieder auf die Erblast der Eroberung zurückgeführt. Zwischen utopischem Neubeginn und apokalyptischem Ende werden sie mit denselben paradoxen Bildern und Narrativen dargestellt und gedeutet.

Zur Relevanz kulturwissenschaftlicher Forschung

Laut Christian Wehr möchte das Projekt zeigen, dass die kulturwissenschaftlichen und philologischen Fächer einen essentiellen Beitrag für das Verständnis geschichtlicher, sozialer und politischer Prozesse leisten können. Sie nehmen Zusammenhänge in den Blick, die von den Sozial- oder Geschichtswissenschaften oft nicht gesehen werden.

Der Grund liege darin, dass auch außerliterarische Diskurse – wie Legitimationen politischer Macht, Gründungserzählungen von Staatengemeinschaften oder auch Deutungen historischer Epochen – immer wieder auf mythologische, erzählerische und bildliche, also literarische Verfahren zurückgreifen. Die Geschichte der Globalisierung Lateinamerikas in ihren literarischen, essayistischen und filmischen Inszenierungen bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.

Kontakt

Prof. Dr. Christian Wehr, Lehrstuhlinhaber für Spanische und Französische Literaturwissenschaft, Tel: +49 931 31-80344, christian.wehr@uni-wuerzburg.de

Zurück