Unser Leben im Spiegel unserer Daten
07.10.2024Noch nie haben Menschen mehr Informationen über ihr Leben aufgezeichnet als heute. Welche positiven und negativen Folgen das haben könnte, erforscht ein Team aus Würzburg und Tübingen.
Noch vor hundert Jahren verfügten die meisten Menschen – allerhöchstens – über einige wenige Fotos von sich selbst und ihrer Familie. Welch ein Unterschied zu heute, da wir ohne großen Aufwand jedes wichtige und unwichtige Ereignis festhalten können – vom ersten Schritt des eigenen Kindes bis zum Restaurantbesuch mit Freunden oder dem Urlaubsfoto am Strand. Und damit endet die Dokumentation unseres Lebens natürlich noch nicht. Man denke nur an die zahllosen E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, die wir täglich schreiben, die Erlebnisse, die wir über soziale Medien mit anderen teilen oder die Daten, die wir mit unseren Smartwatches erfassen.
„Man kann sehr unterschiedliche Intuitionen dazu haben, wie diese verdichtete Aufzeichnung unseres Lebens zu bewerten ist“, erklärt Dr. Fabian Hutmacher, Mitarbeiter am Lehrstuhl Kommunikationspsychologie und Neue Medien der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg. „Manche hoffen beispielsweise, dass wir auf diese Weise den Schwächen und Verzerrungen des menschlichen Gedächtnisses etwas entgegensetzen können. Andere befürchten eher, dass so neue Missbrauchs- und Überwachungspotenziale entstehen.“
Wie so oft sei die Welt aber nicht einfach schwarz und weiß, sondern brauche es einen genaueren Blick, so Hutmacher. Gemeinsam mit JMU-Professor Markus Appel und Professor Stephan Schwan vom Leibniz-Institut für Wissensmedien Tübingen hat er deshalb in der renommierten Fachzeitschrift Psychological Inquiry einen Artikel über das autobiografische Erinnern im digitalen Zeitalter veröffentlicht. Der Aufsatz soll Orientierung in diesem noch weitgehend unerforschten Feld bieten.
Autobiografisches Erinnern – ein Wechselspiel mit der Umwelt
Dass wir auf Ressourcen außerhalb unseres eigenen Geistes zurückgreifen, wenn wir uns an vergangene Ereignisse zu erinnern versuchen, ist keine Erfindung des digitalen Zeitalters, sondern eine Konstante der Menschheitsgeschichte. So hinterließen Menschen schon vor tausenden von Jahren Höhlenzeichnungen und etablierten Traditionen zur mündlichen Weitergabe von Wissen. Und wenn man sich etwa an den letzten Geburtstag zu erinnern versucht, kann man natürlich nicht nur das Smartphone zur Hand nehmen, sondern auch im eigenen Papiertagebuch nachschauen – sofern man denn eines führt – oder Gäste fragen, die bei der Feier dabei waren.
„Was die digitalen Ressourcen aber von diesen anderen Optionen unterscheidet, ist neben der bereits angesprochenen Möglichkeit zur verdichteten Aufzeichnung auch die Tatsache, dass wir so eine multimediale Datenbasis erhalten, die wir relativ einfach durchsuchen können und die uns – zumindest potenziell – immer und überall zur Verfügung steht“, erläutert Fabian Hutmacher. „Digitale Ressourcen sind nicht nur passive Speicher, sondern erlauben es – beispielsweise mittels Künstlicher Intelligenz – Aufzeichnungen aufzubereiten und anzupassen, um etwa digitale Urlaubs- oder Hochzeitsalben zu erstellen. Das kann unsere Sicht auf vergangene Erlebnisse nachhaltig beeinflussen“, ergänzt Professor Stephan Schwan, der am Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien die Arbeitsgruppe Realitätsnahe Darstellungen leitet.
Doch damit nicht genug: Unterschiedliche digitale Aufzeichnungen eignen sich für unterschiedliche Zwecke. So scheinen quantitative Daten, etwa das Tracken von Laufstrecken, Herzfrequenz und Schlafzyklus, besonders gut geeignet, um langfristige Verhaltenstrends zu entdecken. Andere Daten wie Fotos und Videos werden dagegen eher herangezogen, wenn es um ein Schwelgen in Erinnerungen oder ein genaueres Nachdenken über vergangene Ereignisse geht.
Ein Blick in die Glaskugel: Was bringt die Zukunft?
Die vermehrte Nutzung digitaler Daten beim autobiografischen Erinnern könnte Auswirkungen auf zahlreiche Anwendungsfelder haben, erwünschte ebenso wie unerwünschte. Hoffnungen richten sich beispielsweise darauf, dass digitale Hilfsmittel genutzt werden könnten, um Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten oder beginnenden demenziellen Erkrankungen in ihrem Alltag zu unterstützen. In ähnlicher Weise könnten digitale Aufzeichnungen auch dazu beitragen, Erinnerungen zu bewahren, die – wie etwa im Falle von Zeitzeugen der Shoa – für unser kollektives Gedächtnis von Bedeutung sind. „Die Palette von digitalen Erinnerungsformen wird zunehmend breiter, denken Sie nur an virtuelle und augmentierte Realitäten“, ergänzt Stephan Schwan.
Gleichzeitig bieten digitale Daten auch immer die Möglichkeit zur Manipulation: Deepfakes könnten also vielleicht nicht nur im Hinblick auf politische Akteure und Ereignisse, sondern auch im Hinblick auf die Erinnerung an unser eigenes Leben eine Rolle spielen. „In den meisten Fällen haben wir bisher weder zu den Chancen noch zu den Risiken genug belastbare Daten, um klare Aussagen zu treffen“, bilanziert Fabian Hutmacher. „Autobiografische Erinnerungen sind ein wichtiger Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Umso wichtiger ist weitere Forschung in den kommenden Jahren.“
In zukünftigen Studien möchte Fabian Hutmacher die Feinheiten des Zusammenspiels von aufgezeichneten Daten und den Erinnerungen, die wir in uns tragen, noch genauer untersuchen. Wichtig ist ihm dabei auch die Frage, wie sich die aufgezeichneten Daten so nutzen und organisieren lassen, dass sie Menschen wirklich dabei helfen, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern. Das Junge Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in das Fabian Hutmacher Anfang 2024 aufgenommen wurde, fördert seine Forschungen.
Publikation
Hutmacher, F., Appel, M., & Schwan, S. (2024). Understanding autobiographical memory in the digital age: The AMEDIA-model. Psychological Inquiry, 35(2), 83–105. https://doi.org/10.1080/1047840X.2024.2384125
Kontakt
Dr. Fabian Hutmacher, Lehrstuhl Kommunikationspsychologie und Neue Medien, Universität Würzburg, fabian.hutmacher@uni-wuerzburg.de