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Avatare gegen Adipositas

24.09.2019

Neue Therapien gegen starkes Übergewicht: Unter Leitung der Uni Würzburg erforscht ein Verbundprojekt Methoden der virtuellen Realität, um die Körperwahrnehmung von Betroffenen positiv zu beeinflussen.

Marc Erich Latoschik und Carolin Wienrich in dem Labor, in dem 120 Kameras so viele Aufnahmen eines Menschen machen, dass sich daraus originalgetreue Avatare erstellen lassen.
Marc Erich Latoschik und Carolin Wienrich in dem Labor, in dem 120 Kameras so viele Aufnahmen eines Menschen machen, dass sich daraus originalgetreue Avatare erstellen lassen. (Bild: Jörg Fuchs)

Adipositas, also die krankhafte Form von Übergewicht, ist weit verbreitet: 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind davon betroffen. Auch global gesehen ist Adipositas ein Problem: Deutlich erhöhtes Übergewicht steht auf Platz sechs der häufigsten Todesursachen.

Menschen mit Adipositas befinden sich oft in einer Art Kriegszustand mit ihrem Körper. Viele Betroffene verlieren den Glauben daran, abnehmen zu können. Diese Unzufriedenheit kann sich auch auf das soziale Leben und die Psyche auswirken.

Fünf Hochschulen und zwei Firmen sind beteiligt

Das sind gute Gründe, nach neuen Therapiemöglichkeiten zu forschen. Dieses Ziel verfolgen Professor Marc Erich Latoschik und Juniorprofessorin Carolin Wienrich von der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg gemeinsam mit dem Team von Professor Mario Botsch von der Universität Bielefeld. Beteiligt sind außerdem Gruppen der TU München, der HTW Berlin und der FH Gera sowie die Unternehmen brainboost GmbH und The Captury GmbH.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt ViTraS in den kommenden drei Jahren mit rund 2,5 Millionen Euro; davon fließt fast eine Million an die JMU. ViTraS steht für „Virtual Reality Therapy by Stimulation of Modulated Body Perception“.

Psychische Aspekte bleiben oft untergeordnet

„Für starkes Übergewicht gibt es verschiedene Ursachen. Dazu zählen zum Beispiel Lebensgewohnheiten, sozio-kulturelle, psychische oder genetische Faktoren“, erläutert Latoschik, der an der JMU den Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktion leitet. „Bislang stehen Diäten, die Änderung der Lebensgewohnheiten oder die operative Verkleinerung des Magens als Therapieoptionen im Vordergrund. Die psychischen Ursachen und Folgen bleiben oft untergeordnet.“

Viele Menschen mit Adipositas zeigen Veränderungen der Wahrnehmung ihres Körpers, was die therapeutische Arbeit erschwert. Manche schwerwiegenden körperlichen Veränderungen, zum Beispiel der Organe, können nur schwer wahrgenommen werden. Darüber hinaus spielt die äußere Form des Körpers in so gut wie allen sozialen Situationen eine Rolle. Menschen mit Adipositas vermeiden daher häufig soziale Situationen mit Konsequenzen für das Wohlbefinden. Hier wollen die Forschungsteams ansetzen.

Realistisches Bild des Körpers vermitteln

„Die Patientinnen und Patienten sollen zunächst ein realistisches Bild ihres eigenen Körpers erhalten, kein von außen beeinflusstes, wertendes Bild“, erläutert Wienrich, die an der JMU die Juniorprofessur für Mensch-Technik-Systeme innehat. „Dazu erschaffen wir ein exaktes virtuelles Abbild der betroffenen Person, einen sogenannten Avatar.“

Um diesen Avatar so lebensecht wie möglich zu gestalten, werden Patientinnen und Patienten mit 120 Kameras aus verschiedenen Perspektiven fotografiert. Das Team der Universität Bielefeld setzt daraus ein realitätsgetreues Abbild des Körpers zusammen, das danach im virtuellen Raum agieren kann – gesteuert vom Patienten selbst.

Akzeptanz durch Konfrontation

Die Konfrontation mit dem eigenen Körper in der virtuellen Welt kann zu Beginn ungewöhnlich sein – und auch negative Gefühle hervorrufen. „Man muss seine gewohnten Komfortzonen verlassen und lernen, das virtuelle Abbild als den eigenen Körper zu akzeptieren“, so Wienrich. „Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, können die Möglichkeiten der virtuellen Umgebung zum Einsatz kommen. Darin können wir zum Beispiel Situationen konstruieren, die dabei helfen können, Teufelskreise aus der realen Welt zu durchbrechen.“

„Diese Gegenüberstellung in auch unangenehmen Situationen in der virtuellen Welt ist in der Psychologie eine etablierte Methode“, erläutert Latoschik. „Hier in Würzburg erforscht auch die klinische Psychologie virtuelle Welten, um Phobien, beispielsweise Spinnenangst, durch individuelles Training im Simulator zu behandeln. Diese Ansätze kommen dann direkt in der Hochschulambulanz für Psychotherapie zum Einsatz.“

Therapiemöglichkeiten im virtuellen Raum

Nachdem das eigene Abbild im virtuellen Raum geschaffen wurde, lassen sich unterschiedliche Therapieansätze verwirklichen. Dazu zählt zum Beispiel die Möglichkeit, den Avatar beliebig zu verändern. Zurückliegende Ereignisse, wie ein schleichender Gewichtsanstieg über viele Jahre, lassen sich in der Rückschau aufarbeiten. Aber auch die Aussichten einer erfolgreichen Therapie können vor Augen geführt werden.

„Ändern wir das Erscheinungsbild oder das Auftreten des Avatars, kann sich das messbar auf die reale Person auswirken“, sagt Latoschik. So könnten Bilder aus dem Innenleben des Körpers konstruiert werden, die verdeutlichen, wie sich eine krankhafte Gewichtszunahme auf Körperorgane auswirkt – und wie eine Therapie hier positive Ergebnisse liefern kann.

„Kaum einer von uns kann sich seinen eigenen Körper 20 oder 30 Jahre in der Zukunft vorstellen. Wenn wir die Zeit in der virtuellen Realität vorspulen, erhalten wir ganz neue An- und Einsichten über uns selbst und die möglichen Konsequenzen unseres Handelns“, so der JMU-Professor.

Virtuelle Gruppentherapien als Option

Die virtuelle Welt lässt einen nahezu unbegrenzten Freiraum für Anwendungen und Erfahrungsmöglichkeiten. „Losgelöst vom realen Körper könnten sich Menschen mit einer frei wählbaren Erscheinungsform weltweit in virtuellen Gruppentherapien austauschen. Sonst negativ wahrgenommene Körperbilder treten hier in den Hintergrund“, erläutert Wienrich.

Wichtig ist dem JMU-Team, dass in diesem Projekt Grundlagenforschung und anwendungsreife Ansätze kombiniert werden. „Forschungen mit virtuellen Umgebungen sind in der Wissenschaft und in Unternehmen etabliert“, führt die Professorin aus. „Wir verbinden die erprobten Aspekte mit neuen technischen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Fragestellungen.“

Gamification: Elemente aus Spielen einsetzen

Das Projekt ViTraS verbindet Aspekte der interaktiven Computergrafik, Kognitionsforschung und Informatik. Es setzt auch auf Gamification – also auf die Nutzung von Elementen aus Computerspielen. „Dabei interessieren uns vor allem Fragen zu Spielemechaniken und zur Motivierung der Teilnehmenden. Das macht das Projekt auch für Studierende interessant“, sagt Latoschik. Studierende mit einem passenden fachlichen Hintergrund können über eine wissenschaftliche Mitarbeit oder Praktika in die Forschungen eingebunden werden.

Preisgekrönt schon kurz nach dem Projektstart

Das Deutsche Institut für Virtual Reality (DIVR) hat das Konzept von ViTraS schon kurz nach dem Start des Projekts ausgezeichnet. Im Rahmen der „DIVR Science Awards“ erhielt ViTraS den Preis in der Kategorie „Best Impact“. Insgesamt hatte es 49 Bewerbungen gegeben. Der Preis wurde am 23. Mai 2019 beim „VR Science und Business Day“ des „Places VR Festival“ in Gelsenkirchen verliehen.

Weblinks

Verbundprojekt ViTraS

DIVR Science Awards 2019

Von Jörg Fuchs

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