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Von Würzburg in die Welt

10.08.2016

Anika Raendchen hat an der Uni Würzburg Sonderpädagogik studiert. Heute leitet sie ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum in Biberach an der Riß. Ihr Tipp für Studierende: Sich an mehreren Schulen ausprobieren und an mehreren Plätzen einbringen.

Anika Raendchen an ihrem Arbeitsplatz - dem Rektorat der Pflugschule in Biberach. (Foto: privat)
Anika Raendchen an ihrem Arbeitsplatz - dem Rektorat der Pflugschule in Biberach. (Foto: privat)

Was arbeiten Absolventen der Universität Würzburg? Um den Studierenden verschiedene Perspektiven vorzustellen, hat Michaela Thiel, Geschäftsführerin des zentralen Alumni-Netzwerks, ausgewählte Ehemalige befragt. Diesmal ist Alumna Anika Raendchen an der Reihe.

Anika Raendchen ist Sonderschulrektorin an der Pflugschule Biberach – einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Dort werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, die auf Dauer dem Lerntempo und dem Lernumfang der Grundschule nicht folgen können. Diese ist „Lernort für Schülerinnen und Schüler mit einem erweiterten Bildungsanspruch, die in allgemeinen Schulen unter ihren tatsächlichen Möglichkeiten bleiben würden und deren Fähigkeiten und Fertigkeiten dort nicht voll zum Tragen kämen“, wie es auf der Schul-Homepage heißt.

Frau Raendchen, warum haben Sie sich entschieden, Sonderpädagogik zu studieren? Aus einer klassischen Pädagogenfamilie stammend war der Berufswunsch „Unterrichten,  Erziehen und Fördern“ bei mir – gemeinsam mit anderen – schon im frühen Kindergartenalter vorhanden. Während ich damals noch vorhatte, vormittags als Lehrerin, nachmittags als Polizistin und nachts als Krankenschwester zu arbeiten, konzentrierten sich meine Vorstellungen später auf das Berufsbild der Sonderpädagogin. Und jetzt als Rektorin eines Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums bin ich tatsächlich ein bisschen von allem: Lehrerin natürlich am meisten, aber manchmal tatsächlich auch so etwas wie „Polizistin“, wenn im Schulhaus für Ruhe und Frieden gesorgt werden muss, und ganz oft wirklich eine Art von „Krankenschwester“, wenn verletzte Kinder auf der Suche nach einem Heftplaster oder einem Kühlbeutel das Rektorat stürmen – oder ganz einfach Trost brauchen.

Nur nachts arbeite ich nicht so gerne, wie ich mir das als kleines Mädchen einmal erhofft und erträumt hatte… Muss aber auch nicht sein…  

Es gibt Kritiker und Befürworter von Förderschulen - warum sollte es weiterhin das Konzept der Förderschulen geben? Das Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentrum, an dem ich arbeite, bietet beides an: individuell und klassisch sonderpädagogisch gestalteten Unterricht im eigenen Haus genauso wie inklusive Betreuung und Begleitung in den umliegenden Regelschulen. Für mich hat beides seine Berechtigung – je nach Bedarf des einzelnen Mädchens oder des einzelnen Jungen.

Generell stelle ich jedoch fest, dass gerade das aufwendig angelegte Programm unserer Schule, das viele präventiv orientierte Bausteine – beispielsweise zu den Themen Ernährung und Bewegung – bereithält, in seiner Gesamtheit eine positive Wirkung auf die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit unserer Schülerinnen und Schüler hat. Sonderpädagogik an jedem Tag, in jeder Stunden und in jeder Minute – auch in der großen Pause – ist eben doch etwas anderes als nur ab und an ein Besuch, eine Beratung  und ein Lernplan von einer Lehrerin oder einem Lehrer mit entsprechendem Hintergrund. Und das sonderpädagogische „Gesamtpaket“ gibt´s einfach nur bei uns im Haus: die kleineren Lerngruppen, das langsamere Lerntempo, den einfacheren Lernstoff – und vor allem den wachen Blick, den wir auf unserer Schützlinge haben.

Wie kann man sich den Berufsalltag einer Rektorin einer Förderschule vorstellen? Bunt und turbulent! Jeder Tag ist anders, kein Tag ist planbar. Wenn ich morgens das Schulhaus betrete, kann es passieren, dass ich gar kein Kind sehe, weil alle Mädchen und Jungen gemütlich beim Frühstück sitzen oder einträchtig in der Frühbetreuung spielen; genauso kann es aber auch sein, dass sich der Weg von der Eingangstüre zum Sekretariat und Rektorat über eine Viertelstunde hinzieht - aufgrund einer ausgelaufenen Pausentrinkflasche, aufgrund einer nicht verstandenen Hausaufgabe oder einfach aufgrund einer schicken, neuen Mütze, die dringend sofort und auf der Stelle gebührend bewundert werden muss.

Wann ich das Schulhaus abends verlassen kann, weiß ich meistens weder morgens noch mittags – und auch nicht, wie viele Gespräche, wie viele Telefonate und wie viele E-Mails der Tag mir so abverlangt und wie einfach oder wie schwierig diese sein werden.

Gut, dass es die Ferien gibt, die nicht so viele unvorhergesehene Überraschungen und Unterbrechungen bereithalten und Zeit, Ruhe und Muße gewähren für konzeptionelle Überlegungen, Planungen und Gestaltungen!

Was lieben Sie besonders an Ihrem Beruf? Meistens sind es in der Sonderpädagogik ja die kleinen Erlebnisse und Ereignisse, die einem immer wieder zeigen, dass man in seinem Beruf richtig ist und dass man seinen Beruf richtig macht. Für mich persönlich ist es jedes Mal ein kleines Wunder, wenn ein Kind lesen lernt und sich staunend auf den Weg macht, die Welt um sich herum – mit allem, was sie so an Geschriebenem, an Wörtern und an Sätzen bereithält – noch einmal ganz neu zu entdecken.

Mit einer unserer Zweitklässlerinnen, die sehr, sehr lange gebraucht hat, um mit der Lesesynthese, der Sinnentnahme und der Sinngestaltung zurecht zu kommen, war ich neulich in der Eisdiele. Und obwohl die Schlange hinter uns länger und länger wurde, war die Kleine erst bereit, sich für eine Eissorte zu entscheiden, als sie alle zwanzig Eisnamen – zugegeben noch recht mühsam – laut vorgelesen und auch verstanden hatte. Ihre Wahl fiel auf die Sorte mit dem sicherlich schwierigsten Namen: Pfirsich-Maracuja-Jogurt! Wie stolz und zufrieden wir beide nach diesem Einkauf waren!

Welchen Tipp würden Sie Studierenden mit auf den Weg geben, die einen ähnlichen Berufsweg einschlagen möchten? Schon als Sonderschullehrerin ohne Führungsposition wollte ich immer möglichst viel kennenlernen, eigenständig ausprobieren oder einfach abschauen bei erfahrenen Kolleginnen und Kollegen. Mittlerweile bin ich als Sonderpädagogin in meinem zweiten Bundesland und an meiner vierten Sonderschule angekommen und merke, wie ich von den vielzähligen und vielfältigen Ereignissen mit all den Menschen neben mir und über mir in den letzen fünfzehn Jahren profitieren kann.

Bei Problemen, die keine schnelle und einfache Lösung bieten, konfrontiere ich manchmal in Gedanken die drei Schulleiter, unter denen ich gearbeitet habe, mit meiner Lage. Wer von ihnen würde wohl was sagen? Wer von ihnen würde wohl was tun? Und was davon passt zu mir und meiner Situation?

Mein Tipp lautet deshalb, sich auf dem Weg in die Schulleitung nicht gleich auf die Suche nach „seiner“ Schule und „seinem“ Platz zu machen, sondern sich an mehreren Schulen auszuprobieren und an mehreren Plätzen einzubringen. Ein breit gefächertes Repertoire an Handlungsstrategien für den unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Arbeitsalltag lässt sich so viel einfacher und fast von alleine erwerben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Von Michaela Thiel

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