"Weihnachten - das Wagnis der Verwundbarkeit"
18.03.2019Wir freuen uns Ihnen eine weitere Buchveröffentlichung im Kreise unserer Alumni bekannt machen zu können. Unsere Alumna Hildegund Keul ist Autorin des Buches 'Weihnachten - das Wagnis der Verwundbarkeit'.
Hildegund Keul ist Professorin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg. Sie leitet die Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und das Projekt 'Verwundbarkeiten' gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ist Autorin des Buches - Weihnachten - das Wagnis der Verwundbarkeit' https://vulnerabilitätsdiskurs.de/wp-content/uploads/Flyer_2015_Weihnachtsbuch_Auflage2_Keul.pdf
Frau Prof. Keul, wie sind Sie zu Ihrem Forschungsthema gekommen?
2011 gab es eine intensive gesellschaftliche Debatte zum rasanten Wachstum der Weltbevölkerung. Damals wurde die Grenze von „sieben Milliarden Menschen leben nun auf der Erde“ erreicht. In diesen Debatten fiel mir auf, dass sich hier alles um Verwundbarkeit dreht. Wieviele der sieben Milliarden Menschen werden an Hunger, Krankheit, Gewalt und Krieg sterben? Was können wir dagegen tun? Welchen Migrationsdruck übt die wachsende Weltbevölkerung auf Europa aus? Wie kann man sich schützen vor der Gewaltsamkeit, die in der ungerechten Verteilung globaler Lebensressourcen lauert? Wo werden die Folgen des Klimawandels neue Fluchtbewegungen auslösen, und wie gehen wir damit um? Menschen sind verwundbar, und die Verwundbarkeit steigt mit dem Wachstum der Weltbevölkerung, z.B. wegen des damit verbundenen Klimawandels und der globalen Migrationsbewegungen.
Zur selben Zeit, als diese Fragen debattiert wurden, arbeitete ich theologisch zum Thema „Inkarnation und Verwundbarkeit“. Was bedeutet es, dass Gott nach christlicher Überzeugung in Jesus Christus Mensch wird und sich damit freiwillig verwundbar macht? Diese theologische Frage erschien plötzlich in neuem Licht. Verwundbarkeit war nicht nur ein theologisches, sondern auch ein gesellschaftlich hoch brisantes Thema. Also wollte ich wissen, wie die anderen Wissenschaften damit umgehen – und lernte das aus dem Lateinischen abgeleitete Fachwort „Vulnerabilität“ kennen, das ich in der deutschsprachigen Theologie zuvor noch nie gehört hatte.
Ich begann fieberhaft zu recherchieren und stieß auf „Gepris“ (Geförderte Projekte InformationsSystem). Dieses Verzeichnis der Deutschen Forschungsgemeinschaft führt alle von ihr geförderten Projekte auf und verschlagwortet sie. Und siehe da: in allen Wissenschaftsbereichen zeigte sich Verwundbarkeit als zentrales Thema, sogar in den Ingenieurwissenschaften – nicht nur Lebewesen, sondern auch Gebäude und Landschaften sind verwundbar, das führen Stürme, Wasserfluten, Feuerbrünste schmerzlich vor Augen. In allen Wissenschaftsbereichen war Vulnerabilität damals bereits ein Schlüsselwort – außer in der Theologie. An keinem der 52 Forschungsprojekte, die die DFG damals förderte, war die Theologie beteiligt, geschweige denn selbst die treibende Kraft.
Was bedeutet das 'Wagnis der Verwundbarkeit'?
Die zündende Idee kam mir in dem Moment, als ich in der Vulnerabilitätsforschung den Satz las, dass Neugeborene die höchste Vulnerabilität überhaupt haben. Sofort kam mir Jesus in den Sinn, das Kind in der Krippe. Dieses Kind, in dem Gott Mensch wird, ist hoch vulnerabel, als Neugeborenes und zumal als Neugeborenes auf der Flucht. Wenn in diesem Kind Gott Mensch wird, so bedeutet dies, dass Gott sich aus freien Stücken verwundbar macht. Gott schafft nicht nur eine äußerst verletzliche Welt und überlässt sie dann sich selbst. Sondern in Jesus Christus stellt er sich selbst der menschlichen Vulnerabilität.
Dies hat nicht nur für das christliche Gottesbild Bedeutung, sondern auch für den Umgang von Menschen mit der Vulnerabilität. Denn um überleben zu können, braucht der neugeborene Jesus – und genauso jeder andere Mensch – die hingebungsvolle Zuwendung anderer Menschen. Menschen, die bereit sind, für dieses neue Leben ihre eigene Verwundbarkeit zu riskieren. Es braucht das hingebungsvolle Engagement seiner Eltern, auch des sozialen Vaters Josef, die sich mit der Flucht nach Ägypten dem gewalttätigen Diktator Herodes widersetzen; und die Widerstandskraft der Sterndeuter, die das Kind nicht dem Diktator ausliefern. „Wie gehen Menschen mit ihrer eigenen Vulnerabilität um – und wie mit der Verwundbarkeit anderer Menschen?“ Dies wurde zu einer Schlüsselfrage des Christentums. – Dies konnte ich in meinem Buch „Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit“ ausführlicher darstellen. In der Theologiegeschichte gab es zuvor keine Christologie, die die Inkarnation systematisch von Geburt und Verwundbarkeit her betrieben hätte.
Welches Ergebnis Ihrer Forschung hat Sie bisher am meisten oder wenigsten überrascht und warum?
Was die Theologie im interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs ganz Eigenes zu sagen hat, etwas, das auch für andere Wissenschaften weiterführend sein kann. Der größte Teil der Vulnerabilitätsforschung zielt darauf ab, die Verwundbarkeit von Menschen zu verringern. Aber wenn wir in einer Gesellschaft und in persönlichen Beziehungen human miteinander leben wollen, dann brauchen wir die Bereitschaft, die eigene Verwundbarkeit zu erhöhen, um das Leben Anderer zu eröffnen, zu schützen und zu fördern: sich ehrenamtlich engagieren, Kinder zur Welt bringen und Sorge für sie tragen, für Menschenrechte eintreten, im Klimaschutz aktiv sein. Das erhöht die eigene Vulnerabilität, aber es macht das Leben auch reich und lebenswert.
In unserer Würzburger Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“, die ich gemeinsam mit meinem humanwissenschaftlichen Kollegen Priv.-Doz. Dr. Thomas Müller leite, arbeiten wir interdisziplinär. Die Theologie bezieht sich aus meiner Sicht noch immer zu sehr auf die eigenen theologischen Traditionen. Aber die Theologie braucht die anderen Fächer, den Austausch und gänzlich neue Perspektiven.
Forschungsprojekt: Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs; gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041. Siehe auch www.vulnerabilitätsdiskurs.de.
Lesetipp: Hildegund Keul: Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit. Ostfildern: Patmos, 3. Aufl. 2017.