Woran Eltern erkennen, dass ihr Kind hochbegabt ist - und wann sie etwas unternehmen sollten: Interview mit Dr. Nicole von der Linden
09.09.2024Woran Eltern erkennen, dass ihr Kind hochbegabt ist – und wann sie etwas unternehmen sollten
Etwa zwei Prozent aller Kinder gilt als hochbegabt. Einige von ihnen brauchen unter Umständen eine spezielle Förderung. Wie Eltern erkennen können, ob ihr Kind hochbegabt ist, erläutert die promovierte Psychologin Nicole von der Linden von der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Universität Würzburg im Gespräch.
Frau von der Linden, wie viele Kinder sind hochbegabt und in welchem Alter wird das in der Regel festgestellt?
Nicole von der Linden: Wenn man die IQ-Definition hernimmt, also wir einen Intelligenzquotienten über 130 als hochbegabt bezeichnen, betrifft das ungefähr zwei Prozent aller Kinder. In unserer Beratungsstelle sehen wir, dass Kinder im überdurchschnittlichen Intelligenzbereich, also auch etwas unterhalb von 130, oft ähnliche Fragestellungen haben.
Im Kindergartenalter gibt es Testverfahren, da ist das Ergebnis allerdings noch nicht stabil. Es ist also gerade bei jüngeren Kindern nur eine Momentaufnahme und keine Vorhersage, wie es in ein paar Jahren sein wird. Stabiler wird es dann ab sieben oder acht Jahren. Es werden sicherlich im Schulalter die meisten Testungen gemacht.
"Hochbegabte Kinder können gut logisch denken"
Welche Anzeichen gibt es schon im Grundschulalter dafür, dass ein Kind hochbegabt ist?
Das sind meistens Dinge, die mit Leistung und Lernen zu tun haben. Es könnte auffallen, dass ein Kind ein gutes Gedächtnis hat, eine gute sprachliche Ausdrucksfähigkeit oder einen sehr großen Wortschatz und Fach- oder Fremdwörter verwendet. Hochbegabte Kinder können gut logisch denken, durchschauen Ursache-Wirkungsprinzipien und oft haben sie auch eine große Lernfreude und manchmal ein großes Detailwissen in Bereichen, die für ihr Alter eher ungewöhnlich sind, wie Philosophie oder Politik.
Da gibt es viele Dinge, die müssen auch nicht alle zusammen auftreten. Man kann zum Beispiel nur im sprachlichen Bereich sehr fit sein oder nur im Umgang mit Zahlen. Oft sind die Schulnoten sehr gut.
Was können oder sollten Eltern machen, die einige dieser Merkmale bei ihren Kindern feststellen?
Ich würde mich erst einmal freuen, wenn ich ein schlaues Kind habe. Das ist etwas Schönes und die meisten hochbegabten Kinder kommen auch gut zurecht. Ich lade die Eltern immer erst einmal ein zu schauen: Wie geht es ihrem Kind? Wenn sie das Gefühl haben, sie haben sowohl nachmittags zu Hause als auch in der Schule ein glückliches und zufriedenes Kind, das auch gut ausgelastet ist, muss man auf keinen Fall besondere Beratung in Anspruch nehmen, außer man hat vielleicht selbst Fragen.
Ein Gespräch mit der Lehrkraft sollten Familien suchen, wenn das Kind in langen Strecken unterfordert ist in der Schule und die Freude am Lernen verliert, sich bei den Hausaufgaben langweilt und sagt, dass es auch mal etwas Komplexeres machen will.
Wie kann es weitergehen, wenn tatsächlich Handlungsbedarf besteht?
Wichtig im Gespräch mit der Lehrkraft ist, nicht hinzugehen und zu sagen: Unser Kind ist besonders begabt, jetzt müssen Sie aber eins, zwei, drei machen. Man sollte den Eindruck der Lehrkraft auch erfragen und schauen, welche Möglichkeiten es gibt, das Kind entsprechend seiner Fähigkeiten zu fördern.
Zu uns in die Beratungsstelle kann man immer kommen, wenn man sich unsicher fühlt oder Fragen hat, eine Testdiagnostik wünscht oder es Probleme gibt. Es gibt auch Eltern, die sich unsicher sind, wie sie das Thema mit der Lehrkraft ansprechen sollen oder welche Fördermöglichkeiten es überhaupt gibt.
"Hochbegabte sind genauso unterschiedlich, wie alle anderen Menschen auch"
Welche Fördermöglichkeiten gibt es für hochbegabte Kinder und Jugendliche?
Zunächst muss man sagen, dass Hochbegabte sehr unterschiedlich sind - genauso unterschiedlich, wie alle anderen Menschen auch. Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Förderungsansätze. Da gibt es einmal Maßnahmen, die Schullaufbahn zu verkürzen, wie eine vorzeitige Einschulung, das Überspringen einer Klasse oder im neuen G9 die individuelle Lernzeitverkürzung, wo man die 11. Klasse überspringt.
Dann gibt es Ansätze, die über das übliche Unterrichtsangebot hinausgehen. Dabei können einzelne Inhalte vertieft werden oder besondere Lernmethoden zum Einsatz kommen. An weiterführenden Schulen gibt es spezielle Kurse oder Nachmittags-AGs, aber auch Wettbewerbe für alle möglichen Fachrichtungen, Schülerakademien in den Ferien, Austauschprogramme und vieles andere. Die dritte Säule ist die Separation, also spezielle Hochbegabten- oder Talentklassen, in denen hochbegabte Schülerinnen und Schüler unter sich lernen.
Wie finden Familien heraus, was für ihr Kind am besten passt?
Oft merken das die Familien selbst, wenn sie nah an ihrem Kind sind. Man darf nicht nur schauen, was das Kind kann, sondern auch, was es möchte und was ihm guttut. Manchmal ist das, ein Lieblingsthema außerhalb der Schule zu vertiefen. Wenn das Kind in allem sehr schnell ist und sich oft langweilt, könnte es sinnvoll sein, die Schullaufbahn zu verkürzen.
Aber manche Kinder wollen das nicht und bei ihren Freunden in der Klasse bleiben. Die Separationsangebote erfordern eine gewisse Motivation und ein breites Interesse. Diese speziellen Klassen gibt es auch nicht überall, da ist eventuell ein längerer Schulweg nötig. Das ist immer eine individuelle Entscheidung, man muss das Kind und die Familie als Ganzes in den Blick nehmen.
"Eltern haben häufig Angst, dass Hochbegabte vermehrt psychische Störungen haben"
Welche falschen Vorstellungen sind zur Hochbegabung im Umlauf?
Da gibt es sehr viele. Es gibt oft eine Annahme von Lehrkräften, manchmal auch von Eltern, dass ein hochbegabtes Kind in allen Bereichen überdurchschnittlich sein muss. Das stimmt aber nicht. Das kann auch nur in einem bestimmten kognitiven Bereich sein, wie im Mathematischen. Motorik, Emotionen, soziale, kreative oder musische Fähigkeiten sind von den kognitiven Fähigkeiten ganz unabhängig.
Auch, dass Hochbegabte häufig soziale Probleme und keine Freunde haben, kann die Forschung nicht bestätigen. Eltern haben häufig Angst, dass Hochbegabte vermehrt psychische Störungen haben. Auch das findet die Forschung nicht häufiger als bei anderen.
Artikel aus dem evangelischen Sonntagsblatt vom 03.09.2024