Geschichtsverständnis im Wandel der Zeit
12/18/2019Die JMU pflegt seit dem Jahr 2017 eine Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Forum. Vom 8. bis 12. Oktober 2019 fand eine DAAD geförderte Alumni-Konferenz in Moskau statt, an der etwa 100 russische Alumni deutscher Hochschulen teilgenommen haben. Professorin Annuschka Tischer von der JMU, die den Lehrstuhl für Neuere Geschichte inne hat, hat einen mehrtägigen interaktiven Workshop geleitet.
Frau Professorin Tischer, Ihr Workshop hatte die Konzepterstellung eines deutsch-russischen Geschichtsbuches zum Thema. Wie waren Ihre Erfahrungen im Workshop (was war eine Herausforderung, was eine Chance, was hat Sie besonders überrascht)?
Mich hat sehr beeindruckt, wie selbständig die TeilnehmerInnen die Aufgabe umgesetzt haben. Obwohl nicht alle von ihnen tatsächlich beruflich mit Geschichte zu tun hatten, brachten sie doch sehr grundlegende Kenntnisse über die deutsche und russische Vergangenheit, einschließlich ihrer Verflechtungen und Berührungspunkte, mit. Mich hat dabei überrascht, dass das Interesse oft aus einem regionalen Kontext kam, der von Verbindungen zur Hanse bis zum Wissen um ein regionales Kriegsgefangenenlager reichte. Es gab unter den TeilnehmerInnen dann auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie man eine deutsch-russische Geschichte schreiben solle. Wir sind dieser Herausforderung konstruktiv begegnet und haben schließlich zwei Konzepte erarbeitet.
Sie haben neben dem Workshop einen Vortrag mit dem Titel "Früher war alles anders? Früher war alles besser? Früher war alles gleich? Wertewandel in Gesellschaft und Politik im Laufe der Jahrhunderte" gehalten. Wie würden Sie die Quintessenz Ihres Vortrages in kurzen Worten umreißen?
Mein Vortrag war ein Plädoyer dafür, die Vergangenheit in ihrem eigenen Recht zu betrachten und nicht gleich den eigenen Vergleichsmaßstab anzuwenden. Das vermeintliche Interesse an der Geschichte ist nicht selten gegenwartsorientiert, es wird also die Vergangenheit an der Gegenwart gemessen oder sogar als Argument für aktuelle gesellschaftliche und politische Diskurse instrumentalisiert.
Gerade aber wenn man aus der Geschichte etwas lernen will, muss man sie erst einmal in ihrem eigenen Zusammenhang sehen, in dem die Unterschiede ebenso wie die Parallelen erkennbar sind.
Sie pflegen schon seit vielen Jahren die Zusammenarbeit mit russischen KollegInnen. Wie ist es dazu gekommen?
Die Kontakte haben sich einfach aus fachlicher Zusammenarbeit heraus ergeben. Als Historikerin habe ich viele internationale Kontakte, nicht nur nach Russland, sondern zum Beispiel auch nach Großbritannien, Frankreich, Lettland oder in die USA. Da ich innerhalb der Internationalen Geschichte arbeite, sind meine Forschungskontakte zwangsläufig auch international. Bei der Zusammenarbeit mit russischen KollegInnen kommt aber vielleicht noch der beiderseitige Wunsch hinzu, diese Kontakte besonders zu pflegen, weil sie eben doch nicht selbstverständlich sind.
Was schätzen Sie besonders an der interkulturellen Zusammenarbeit und was würden Sie KollegInnen raten, die eine solche Zusammenarbeit anstreben?
Es ist natürlich ein Gemeinplatz, dass man sich in der interkulturellen Zusammenarbeit auf andere Kulturen einstellen sollte, auch wenn im wissenschaftlichen Raum eine internationale Gemeinschaftnexistiert, in der Unterschiede oft einfacher zu überbrücken sind. Inmder Zusammenarbeit mit russischen KollegInnen schätze ich die Offenheit, mit der auf der sachlichen Ebene Sachverhalte angesprochen und auch Probleme diskutiert werden. In der internationalen Zusammenarbeit sollte man aber andere Sichtweisen aushalten können.
Was war Ihr bisher schönstes Erlebnis in Russland?
Es gab immer wieder schöne Erlebnisse, so dass ich kein bestimmtes nennen könnte. Was mich aber berührt, ist die Begeisterung für die deutsche Sprache und Kultur, die mir in Russland immer wieder begegnet. Während der Alumni-Konferenz wurden wir zum Beispiel in der Pädagogischen Hochschule von einer Mitarbeiterin angesprochen, die von der Konferenz nichts wusste und einfach spontan erfreut war, mit Deutschen und auf Deutsch zu sprechen. Das war eine kurze, aber sehrneindrückliche Begegnung.