AP2: AR-Applikationen im Physikunterricht und Wahrnehmung digitaler Technologien
Im Rahmen des Teilprojekts sollen Facetten der Vernetzung digitaler Medien und Bildungsprozesse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Grundlegend soll untersucht werden, wie digitale Medien Bildungsprozesse, insbesondere am Beispiel des Gebrauchs von AR-Applikationen, unter anderem durch ein verändertes Selbst-Welt-Verhältnis und durch ein höheres Maß an Autonomie und Subjektfokussierung im Lernprozess verändern. Dazu wird von Seiten der systematischen Bildungswissenschaft kritisch-reflexiv untersucht, inwieweit digitale Phänomene und Technologien auf Praktiken der Subjektivierung und Wahrnehmungsprozesse einwirken. Die Physikdidaktik untersucht die Anwendung von AR-Applikationen in Unterrichtssituationen quantitativ-empirisch, hier soll der Einfluss einer solchen App auf die Lernprozesse in spezifischen Unterrichtssituationen untersucht werden.
Der unterschiedliche wissenschaftliche Zugang ermöglicht verschiedene, sich ergänzende Perspektiven auf den Forschungsgegenstand. Dabei steht unter anderem die Ermöglichung neuer Formen der Sichtbarkeit von Modellen durch digitale Medien sowie deren Zugänglichkeit und Auswirkungen auf Lern- und Bildungsprozesse im Fokus der Forschung. Digitale Medien bilden in diesem Sinne Modelle zweiter Ordnung.
Die Kultusministerkonferenz (KMK) stellt in ihrem Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ in der Fassung vom 7.12.2017 fest, dass die Digitalisierung sich auf alle Lebensbereiche und Altersstufen auswirkt, sodass ein Lernen mit und über digitale Medien stattfinden muss. Dadurch soll eine kritische Reflektion in Bezug auf den Umgang mit Medien und das Leben in einer digitalen Welt ermöglicht werden. Explizit wurde auch gefordert, dass digitale Lernumgebungen bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen systematisch eingesetzt werden sollen. Die KMK erhofft sich davon eine neue Spannbreite an Gestaltungsmöglichkeiten für den Unterricht.
Ebenso wird von Seiten der Schüler*innen der Wunsch nach mehr Digitalisierung in den Klassenzimmern laut. In einer 2020 erschienenen Studie von bitkom geben 83% der befragten Schüler*innen an, die Digitalisierung eher als Chance als Risiko für deutsche Schulen zu sehen. In derselben Studie stimmen 93% der Befragten zu, dass digitale Medien den Unterricht interessanter machen und 60% sagen, dass sie durch digitale Medien Lerninhalte besser und schneller verstehen.
Um der Tiefe des Themas Vernetzung digitaler Medien und Bildungsprozesse gerecht zu werden, sind auch die Vorgehensweisen entsprechend breit gefächert. Die daraus resultierende Perspektivenvielfalt ermöglicht eine genauere und vielschichtigere Betrachtung dieses komplexen Themenbereichs. Beide Herangehensweisen ergänzen sich wechselseitig in ihrem wissenschaftlichen Zugang und ermöglichen eine ganzheitlichere Untersuchung des Forschungsgegenstands.
Die systematische Bildungswissenschaft arbeitet dabei kritisch-hermeneutisch. Es wird ein Dreischritt angestrebt, beginnend mit einer Untersuchung des Spezifischen des Digitalen, das kulturelle Ordnungen neu konstituiert und dadurch den Zugang zu Welt verändert. Darauffolgend wird der Einfluss von digitalen Technologien auf Praktiken der Subjektivierung untersucht, die Interaktion zwischen Mensch und Digitalem steht hier im Fokus. In diesem Kontext soll auch auf AR-Technologien eingegangen werden, die eine neue Form des Zeigens etablieren. Abschließend sollen die Formen der Subjektivierung aus bildungstheoretischer Sicht diskutiert werden. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, wie Bildung in einer digitalen Welt gedacht werden kann.
Von physikalisch fachdidaktischer Seite wird quantitativ-entwickelnd vorgegangen. Es soll in einem mehrschrittigen iterativen Entwicklungsprozess eine AR-App für Smartphones und Tablets entstehen, die Experimente zur Elektrizitätslehre durch eine auf das Realexperiment überblendete Modellebene erweitert. Die initiale Konzeption geschieht dabei am Lehrstuhl für Physik und ihre Didaktik, eng begleitet von Experten des Fachs, die dabei entstandene App wird dann in Lehr-Lern-Laboren an der JMU an Kleingruppen geprüft, bevor sie durch eine Studie an Gymnasien in einem quasi-experimentellen Pre/Post-Design mit Treatment und Kontrollgruppe getestet wird.
Das bildungswissenschaftliche Promotionsvorhaben des Teilprojektes beschäftigt sich mit der Auswirkung digitaler Technologien auf Praktiken der Subjektivierung. Dabei wird das Augenmerk auf das Spezifische des Digitalen gelegt. Im Blickpunkt stehen hierbei die Sinnstruktur von Algorithmen und die sich daraus ergebenden Phänomene sowie AR-Technologien. Hier knüpft auch die physikdidaktische Seite an, die sich mit AR-Applikationen beschäftigt, die für Tablets und Smartphones entworfen werden. Entwickelt werden die Applikationen auf Basis der Umgebung Unity in Verbindung mit der SDK Vuforia, die trackerbasiert ikonographische Bilder erkennt und zur Darstellung der virtuellen Modelle nutzt.
Erklärtes Ziel des Projekts ist es, die Ergebnisse zur Verwertung in der Schulpraxis nutzbar machen zu können. So soll die bildungswissenschaftliche Arbeit Lehrer*innen die Praktiken der Subjektivierung in einer Kultur der Digitalität aufzeigen und deren Einfluss auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Menschen diskutieren. Diese Veränderungen dürfen nicht vernachlässigt werden und müssen vor dem Einsatz digitaler Medien bei der Unterrichtsplanung diskutiert werden. Die im Rahmen der physikdidaktischen Arbeit entstandene AR-Applikation für den Physikunterricht wird Lehrer*innen ebenso zur Nutzung angeboten, schon in der Konzeptionsphase wird darauf geachtet, die App möglichst intuitiv bedienbar und allgemein einsetzbar zu gestalten. Durch diese Zielsetzung sollen Lehrkräfte damit in der Lage sein, auch eigene Experimente zu erstellen und durch die App zu augmentieren.