Gerichtsbarkeit
„Gasthaus zur akademischen Freiheit“ – Gerichtsbarkeit der Universität
Im Mittelalter war die Aufgabe der Rechtsprechung und der Rechtspflege ein Privileg, das den Institutionen durch den jeweiligen Landesherrn verliehen wurde. Fürstbischof Julius Echter erteilte der Universität Würzburg im Jahr 1587 ein solches Privileg. Diese akademische Gerichtsbarkeit erkannte die Universität als eine eigenständige Korporation innerhalb des Hochstifts Würzburg an. Auf diese Weise positionierte sie sich zur Stadtbürgerschaft, dem Domkapitel und zum Landesherrn selbst
Rechte und Pflichten der akademischen Bürgerschaft
In den Personenkreis der akademischen Gerichtsbarkeit waren nicht nur die Professoren und Studenten, sondern auch alle Angestellten der Universität eingeschlossen, die gemeinsam als die civitas academica („Akademische Bürgerschaft“) bezeichnet wurde. Unter der universitären Gerichtsbarkeit genossen diese Personen einen besonderen Schutz. Von Steuerzahlungen und städtischen Pflichten waren sie befreit, worum sie von vielen Bürgern beneidet wurden.
Sie unterlagen aber auch einer eigenen gesetzlichen Ordnung. Wer sich als Student in die Matrikel der Universität Würzburg eintragen ließ, unterstand ihrer direkten Gerichtsbarkeit. Kurzum: die Beteiligung an Würfelspielen und Streitereien, das Tragen einer Waffe während der Vorlesung, das Baden im Main oder der Besuch zwielichtiger Gaststätten wurde direkt von der Universität geahndet. Auch die Verbreitung von Spott- und Schmähschriften, unsittliches Verhalten, Gotteslästerung, die Missachtung der öffentlichen Ordnung und Reizen von deren Wächtern, wie Polizei und Militär, standen unter Strafe.
Der Pedell als Rechtspfleger
Zuständiger Richter war der Rektor oder der Fakultätsdekan des betreffenden Studenten. Kennzeichnend für diese niedere Gerichtsbarkeit – wie sie die Universität ausübte – waren Geldbußen oder Haftstrafen im Karzer. Leibesstrafen oder Todesstrafen durften ausschließlich Obergerichte oder Landesherrn aussprechen und vollstrecken.
Auch auswärtige Studenten und Bewohner standen unter Beobachtung. „Jene Frembde aber, so sich hierunter Vergehen wurden, […] Wir dann Euch hiermit ferner gnädigst aufgeben, Ihr hättet alle dergleichen Exzedenten mit guter aufmerksamkeit beobachten, und solche bey mindester Stöhrung der gemeinen Ruhestandts ordentlich notieren“. Ferner verfügte Adam Friedrich von Seinsheim, Bischoff zu Bamberg und Würzburg, am 1. August 1761, dass ihm dieses „nahmentliche Verzeichnis“ in regelmäßigen Abständen vorgelegt werden sollte. (UAWü, ARS 2770, fol. 1) Auch hiesige Studenten unterstanden den wachen Augen des Pedells. Der Gerichtsdiener war nicht nur für die Ordnung und Einhaltung der Universitätsgesetze, sondern vor allem für den Strafvollzug zuständig.
Die Karzerhaft als Maßregelung
Für den Strafvollzug errichtet die Universität Würzburg einen Karzer (lat. carcer ‚Umfriedung, Kerker‘). Für die frühen Jahre der Universitätsgründung ist der Verbleib des Karzers unbekannt. Seit den 1770er Jahren befand sich dieser im Gebäude der sogenannten Alten Universität; zunächst im Erdgeschoss des Westflügels. Die Umstände der Karzerhaft hatten zwar eine abschreckende Wirkung, doch die Solidarität für die Inhaftierten war groß. Über die Außenfenster erhielten sie von ihren Kommilitonen Getränke und Speisen. Auch die Flucht konnte einem Inhaftierten gelingen. Daher verlegte man den Karzer 1820 in den dritten Stock des Ostflügels. Heute befinden sich dort Lehrräume und der Übergang zur Neubaukirche.
Karikaturen und Gedichte als Tor zur akademischen Freiheit
Am 11. August 1894 machte sich Albrecht Rabus, Kustos an den akademischen Kunstsammlungen, selbst ein Bild des Karzers in der Alten Universität und fertigte eine genaue Beschreibung mit Zeichnungen an. Anlass dazu gab der Bau des neuen Universitätskomplexes am Sanderring Ende des 19. Jahrhunderts mit einem neuen Karzer.
Betrat man den schmalen Gang mit 3 m Länge und 1 m Breite, wurde man links an der Wand mit den Worten „Es lebe die akademische Freiheit!“ begrüßt. Albrecht Rabus bot sich dann ein Bild des studentischen Selbstverständnisses. Unterschiedliche Gedichte, Wappen und Karikaturen fanden sich an den Wänden. Auf den Möbelstücken und dem Waschtischen hinterließen die Insassen ihre Namen und die Dauer des Aufenthalts im Karzer. Der Medizinstudent G. [Carl?] Schiller war vom 13. bis 16. Februar 1893 inhaftiert und hinterließ an der Karzerdecke Stachel's Lied:
Wenn ich ein Vöglein wär'
Und auch zwei Flügel hätt'
Flög' ich von hier.
Wer hätte das gedacht.
Dass sie mich reingebracht?
Jetzt sitz' ich hier!
(MvWM, fol.9)
Zu Gast Waren auch Fritz Bauer und Hermann Klaushold.
Gerichtsbarkeit als Kompetenz des Staates
Mit der Säkularisation trat die Universität ihre Kompetenz über die Legislative wie auch die Exekutive eines Vergehens zunehmend ab. Die akademische Gerichtsbarkeit wurde an die Polizeigerichtsbarkeit übertragen. Sie oblag nun dem Staat. Durch den Erlass des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1879 wurden alle Sondergerichte abgeschafft. Dieses Gesetz regelt die Gerichtsbarkeit und Zuständigkeiten. Die Karzerstrafe jedoch blieb der Universität als Disziplinarstrafe neben dem consilium abeundi, dem Verweis, erhalten.
In den Jahrhunderten zuvor waren Karzerstrafen gefürchtet. Sie entwickelte sich jedoch zunehmend zu einem Prestige des studentischen Lebens. Karzerstrafen demonstrieren nun eine aufbäumende Studentenschaft gegen die Obrigkeit. Der angedachte disziplinarische Sinn verlor damit seine Wertigkeit. Bekannt ist auch, dass Wein- und Bierlieferungen an die Studenten als ertragreiche Nebeneinkünfte für die Pedelle dienten. Ein unbekannter Student schrieb: „Glaubst du daß mich dieser Spaß verdroß. Hier im Karzer lebt sichs ganz famos." (MvWM, fol.3)
Ab den 1920er Jahren wurde die Karzerstrafe nicht mehr vollzogen. Bereits wenige Jahre nach der Errichtung des Karzers in der Neuen Universität wurde dieser zum Vorstandszimmer des klassisch-philologischen Seminars umfunktioniert. Das Bewusstsein der Karzerstrafen hatte jedoch Bestand und wirkte in die Würzburger Öffentlichkeit.