Interview mit der Schriftstellerin Chloé Delsad
07.03.2022Die französisch-schweizerische Autorin Chloé Delsad und die ivorische Autorin Véronique Tadjo waren im Januar zu Gast an der Universität Würzburg. Im Rahmen eines Workshops diskutierten sie mit den Teilnehmenden über ihre Erzählungen "Lycée Norbert Zongo" und "Reine Pokou". Louisa Koch, Studierende im Masterstudiengang 'Neuere Literaturen' der Universität Würzburg, sprach mit Chloé Delsad über ihre Werke, afrikanische Mythen und orale Traditionen.
Im Rahmen des Hauptseminars der französischen Literaturwissenschaft, das in diesem Wintersemester 2021/22 stattgefunden hat, haben sich die Studierenden mit dem Vorkommen traditioneller afrikanischer Mythen und Legenden in modernen Erzählungen beschäftigt. Durchgeführt wurde das Seminar von der Lehrstuhlinhaberin für französische Literaturwissenschaft, Professorin Brigitte Burrichter. Anhand der zeitgenössischen Werke Lycée Norbert Zongo (2019) von der französisch-schweizerischen Autorin und Lehrerin Chloé Delsad und Reine Pokou (2005) von der ivorischen Autorin und Künstlerin Véronique Tadjo haben sich die Kursteilnehmer:innen sowohl dem Mythos- und Legendenbegriff innerhalb der modernen Narration angenähert als auch die beiden Werke auf feministische und postkolonialistische Perspektiven hin untersucht.
Am 21. Januar 2022 wurde das Seminar mit einem hybrid gestalteten Workshop gemeinsam mit den beiden Autorinnen beendet. Véronique Tadjo wurde der Veranstaltung per Zoom hinzugeschaltet, Chloé Delsad ist hierfür nach Würzburg gekommen. Der Abschlussworkshop war ein studentisches Projekt, in dessen Rahmen die Kursteilnehmerin Louisa Koch ein Interview mit Chloé Delsad geführt hat, um sie zu ihrem Roman zu befragen (siehe weiter unten).
Delsads 2019 erschienener Roman Lycée Norbert Zongo, Les tribulations d’une professeure au Burkina Faso erzählt die Geschichte einer jungen Französin, Pauline, die 2016 nach Burkina Faso aufbricht, um dort als Assistenzlehrerin an einer Schule Literatur zu unterrichten. Während ihres Aufenthalts erlebt sie die jihadistischen Attentate in ihrer unmittelbaren Umgebung mit und auch die Schule, an der sie unterrichtet, wird Zielschreibe von Plünderungen und Gewalt. Trotz der Verunsicherung und Angst, die Pauline angesichts der Situation empfindet, verbringt sie eine unvergessliche Zeit. Sie knüpft sie neue Freundschaften, macht wichtige Erfahrungen und findet in schwierigen Situationen immer wieder Trost durch die Literatur.
Der in Teilen autofiktionelle Roman ist von den persönlichen Erfahrungen Chloé Delsads inspiriert, die selbst an einer Schule in Burkina Faso unterrichtet hat. Durch die Figur der Pauline und ihre Leidenschaft für frankophone afrikanische Literatur zelebriert Lycée Norbert Zongo die Wichtigkeit von Literatur in der heutigen Zeit, wirft gleichzeitig aber auch kritische Fragen über deren Funktionen im Kontext aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen auf.
Interview mit der französisch-schweizerisch Autorin Chloé Delsad über ihrem Roman Lycée Norbert Zongo
Louisa Koch (LK): Als ich Lycée Norbert Zongo zum ersten Mal gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass sich die Protagonistin Pauline wiederholt mit einer bestimmten Frage konfrontiert sieht, nämlich der Frage nach den Funktionen und der Berechtigung von Literatur in Zeiten von Gewalt und sozialer und politischer Ungerechtigkeit. In dieser Hinsicht gab es eine Passage, die mich besonders hat innehalten lassen. Nach einem Attentat auf die Hauptstadt Ouagadogou erinnert sich Pauline an den Anschlag auf Charlie Hebdo 2015 in Paris und beschreibt, wie sie sich, damals noch als Studentin an der Sorbonne, gefühlt hat und welche Zweifel ihr in dieser Situation in Bezug auf die Berechtigung von Literatur und Wissen im Allgemeinen gekommen sind: „La page blanche, que j’avais toujours perçue comme étant porteuse d’horizons semblait n’être à présent qu’un vulgaire morceau de papier froid, distant, fonctionnel. […] Pour la première fois de ma vie, j’eus envie d’arrêter les études. Moi qui avais toujours considéré que le savoir était l’arme la plus puissante en ce monde.“ (S. 76).
Als Studentin der Literaturwissenschaft kenne ich diese Frage nach der Sinnhaftigkeit von Literatur sehr gut. In welcher Hinsicht hat sie Ihren Werdegang als Lehrerin und Autorin beeinflusst?
Chloé Delsad (CD): Während meines Aufenthalts in Burkina Faso ist mir aufgefallen, dass die Schüler:innen und Kolleg:innen in schwierigen Momenten – und zwar sowohl bei Gewalterfahrungen als auch bei Schwierigkeiten in ganz alltäglichen Situationen – auf die Literatur zurückgegriffen haben, um sich zu trösten und das Erlebte zu reflektieren. So sehe auch ich die Literatur, als eine Art Katharsis, die es erlaubt, Leid zu überwinden und der Realität zu entfliehen.
Ein ähnliches Literaturverständnis vertritt auch die Schriftstellerin Ken Bugul, die mich sehr inspiriert hat. Für sie sind Literatur und Schreiben nicht nur Rückzugsorte, sondern sie gestatten ihr auch ganz neue Überlegungen und Schlüsse, wodurch eine Art Selbsttherapie ausgelöst wird. In ihren vier Autofiktionen wird sehr deutlich, dass sie wiederholt Situationen der Unterdrückung erfahren musste. Was bei ihren Darstellungen allerdings überwiegt, ist stets, wie sie diese Situationen überwindet, nicht zuletzt durch das Schreiben selbst. Diese Resilienz innerhalb des Schreibprozesses ist inspirierend.
LK: Das war auch mein Eindruck bei der Lektüre Ihres Roman, dass Literatur in schwierigen Momenten immer auch als Mittel zur Bewahrung der inneren Stabilität verstanden wird…
CD: Dieser therapeutische Effekt von Literatur ist insbesondere in der mündlich überlieferten Tradition spürbar, in Märchen, Legenden und Sprichwörtern. Schließlich hat es etwas sehr Beruhigendes, sich ein Sprichwort immer und immer wieder aufzusagen. In Lycée Norbert Zongo entschließt sich die Protagonistin nach den Attentaten auf Ouagadougou dazu, einen Märchenabend in der Schule zu veranstalten, um irgendwie auf die Situation zu reagieren und es so auch den Schüler:innen zu ermöglichen, sich zu äußern und in der Literatur Trost zu finden. Die Schüler:innen kennen eine Vielzahl an Märchen auswendig, sie haben sie nicht extra für den Abend gelernt, sondern können ganz spontan auf diese beeindruckende Anzahl an Geschichten zurückgreifen. Eine ähnliche Situation habe ich tatsächlich selbst so in Burkina Faso erlebt. Ich war die einzige, die nicht so viele Märchen auswendig und spontan erzählen konnte. Der Bezug zur mündlichen literarischen Tradition ist sehr lebendig im Alltag der Burkinabé, die ich kennengelernt habe.
LK: Neben diesen Bezügen zur oralen Tradition lassen sich zahlreiche Referenzen zu weiteren Werken frankophoner afrikanischer Autor:innen in Ihrem Roman finden. War es während des Schreibens von Anfang an Ihre Intention, diese Verweise in Ihren Roman einzuarbeiten oder sind sie quasi spontan hineingerutscht?
CD: Das war nicht bewusst intendiert, sondern kam eher instinktiv. Als ich die Erfahrungen meines eigenen Aufenthalts in Burkina Faso in Romanhandlung umgewandelt habe, musste ich an die frankophonen afrikanischen Bücher denken, die ich gelesen hatte. Diese Assoziationen kamen ganz spontan und ich habe angefangen, diese intertextuelle Ebene in meinen Roman einzuarbeiten. Auf diese Art und Weise konnte ich gleichzeitig ein Fenster zur frankophonen afrikanischen Literatur schaffen und meine Leser:innen dazu einladen, die Werke, die in meinen Augen wichtig sind, selbst zu entdecken.
LK: Für mich hat diese Einladung, frankophone afrikanische Literatur vertiefter kennenlernen zu wollen, auf jeden Fall funktioniert. Als ich Ihren Roman gelesen habe, hatte ich neben dem Buch eine Liste liegen, auf der ich die zitierten Titel, die ich noch nicht kannte, notiert habe.
CD: Leider wird französischsprachige afrikanische Literatur weder in Europa bzw. Frankreich noch in anderen frankophonen Ländern ausreichend unterrichtet. Im Lektürekanon des französischen Schulsystems ist sie geradezu unterrepräsentiert. In der Schweiz ist das Schulsystem glücklicherweise ein wenig flexibler und ich bin freier in meiner Unterrichtsgestaltung, weshalb frankophone afrikanische Werke dort einen wichtigen Platz einnehmen.
LK: Neben diesen ganz expliziten Verweisen sind auch zahlreiche Anspielungen auf die literarischen Strömungen der négritude und der féminitude in Ihrem Roman zu finden. Vor allem das zehnte Kapitel liest sich in meinen Augen wie die gedankliche Fortführung der féminitude. Dieses zehnte Kapitel beginnt zunächst mit der Beschreibung eines Gesprächs, das zwischen der Protagonistin Pauline und Galyam, dem Stammältesten des Dorfes Nabitenga, stattfindet. Als das Gesprächsthema auf die Stellung der Frau fällt, konstatiert Gaylam, dass er es nicht dulden könne, dass eine Frau in seinem Haushalt Entscheidungen treffe und sie in seinen Augen ohnehin nur eine „machine qui sert à la reproduction“ (S. 154) sei. Pauline versucht, Argumente gegen seine Ansichten anzubringen, doch Galyam beruft sich auf seine Autorität als Stammältester und weigert sich, der jüngeren Pauline zuzuhören. Nach dieser Konfrontation ist Pauline erschüttert und wütend über die Unmöglichkeit, sich der „tyrannie verbale“ (S. 153) Galyams zu widersetzen.
Als Frau und Leserin Ihres Romans hat diese Passage natürlich meine Aufmerksamkeit geweckt, doch bei der weiteren Lektüre hatte ich schnell den Eindruck, dass die Frauenfiguren in Ihrem Roman Galyam dennoch widersprechen, wenn auch indirekt. Dadurch, dass beispielsweise das diplomatische Talent und das Charisma der Figur der Tinwendé, die Frau des Schuldirektors, und Ken Bugul als „[f]emme libre, forte, indépendante, excentrique“ (S. 160) erwähnt werden, werden dem:der Leser:in zwei starke Frauenbeispiele vor Auge geführt. So wird in dem beschriebenen Kapitel eine besondere Struktur geschaffen, durch die dem männlichen Bestreben, das Wort und somit die Autorität für sich zu monopolisieren, zwei positive Frauenfiguren als Gegenbeispiele gegenübergestellt werden. In Anbetracht dieser besonderen Argumentationsstruktur stelle ich mir die Frage, welcher Ihr Bezug zur féminitude ist und welche Themen und Forderungen Sie am meisten geprägt haben, sowohl als Schriftstellerin als auch als Frau.
CD: Um diese Frage zu beantworten, würde ich gerne zunächst auf das Thema der Machtverteilung zurückkommen, weil es interessant ist, zu sehen, dass weibliche und männliche Macht im Roman auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. So wird die Macht Galyams als drastisch, heftig und tyrannisch dargestellt. Jegliche Form der Kommunikation wird unterbunden. Die Macht der Frau hingegen kommt im Roman über das Wort zum Ausdruck. So sagt Tinwendé zum Beispiel: „C’est avec ma voix que j’ai su faire plier les hommes.“ (S. 27), sie macht sich also Kommunikationsstrategien und Intelligenz zu eigen.
In Hinblick auf die féminitude interessiert mich insbesondere die Vielzahl an Feminismen. So lehnen zum Beispiel viele afrikanische Frauen das Label ‚Feminismus‘ wegen des westlichen Ursprungs der Bewegung ab. Statt den Begriff einfach zu übernehmen, definieren sie Feminismus auf ihre Art, was es ihnen erlaubt, gewisse Elemente ihrer Tradition, wie zum Beispiel Mutterschaft, auszuleben, andere jedoch abzulehnen. Diese individuelle Note, die diese Frauen ihren Auslegungen von Feminismus verleihen, ist etwas, das ich sehr interessant finde. Ich würde fast sagen, dass es so viele Feminismen wie Frauen gibt, da letztlich jede Frau ihre eigene Auffassung von Feminismus haben kann. Dennoch gibt es natürlich einen starken übergeordneten Gedanken, der die verschiedenen Feminismen eint: das Streben nach Gleichstellung und der Kampf gegen Diskrimination und Ungerechtigkeit gegenüber Frauen.
LK: Ist die Veranschaulichung von kulturellen Unterschieden anhand von Anekdoten wie zum Beispiel die Diskussion über das Geschenk zum Valentinstag – Blumen in Europa vs. ein Hühnchen in Afrika („[l]es fleurs ne peuvent ni tapisser ni réjouir un estomac comme le fait un poulet grillé“, S. 139) – an Ihre persönlichen Erfahrungen während Ihres Aufenthalts in Burkina Faso angelehnt?
CD: Ja, tatsächlich, ich fand es interessant, diese kleinen Unterschiede abzubilden. Das kann witzig sein, so wie bei dem zitierten Beispiel mit dem Geschenk zum Valentinstag, oder auch zum Überdenken der eigenen kulturellen Praktiken anregen. Oft nimmt man die Kultur, in der man selber sozialisiert wurde, als gegeben an und betrachtet sie als unbestreitbaren Referenzpunkt. Erst im Kontakt mit anderen Kulturen realisiert man, dass das nicht unbedingt der Fall ist, was sehr bereichernd ist.
LK: Im Januar waren Sie ja in Würzburg, Véronique Tadjo wurde uns per Zoom zugeschaltet. Was ist Ihr Bezug zu Tadjos Erzählung Reine Pokou und unter welchen Gesichtspunkten würden Sie Ihren Roman und Reine Pokou annähern?
CD: Véronique Tadjos Erzählung schlägt durch die Figur der Pokou, die gleichzeitig Mutter, Liebhaberin und Machthaberin ist, ein plurales und mehrdimensionales Frauenbild vor. Indem die Autorin in ihrer Erzählung verschiedene Versionen der Legende der Pokou zeigt, überwindet sie die starre Figur der Frau, die sich für die anderen aufopfert. So gibt sie der Legende die der mündlichen Tradition inhärente Biegsamkeit zurück. Zwischen den verschiedenen Facetten von Frauen in Reine Pokou und Lycée Norbert Zongo lässt sich inhaltlich also ein Bogen spannen.
Außerdem ist es interessant, den Bezug zum Thema ‚Mythen‘ in beiden Texten zu untersuchen. Mythen sind in meinem Roman dahingehend präsent, dass sich Pauline und Jokébed für Jokébeds Hausarbeit über Mythen, die sie für einen Kurs an der Universität abgeben muss, auf die Suche nach einem Griot oder einer Griotte (1) machen. Die Mythen, die sie bei dieser Suche finden, sind jedoch nie so wie erwartet. Pauline stellt fest, wie sehr sich der Status des Griot bzw. der Griotte verändert hat und wie groß die Diskrepanz zwischen der Idealisierung dieser Figur, die sie bis dahin nur aus der Literatur kennt, und der Realität ist.
LK: Vielen Dank für das Gespräch, es hat uns sehr gefreut, dass Sie für den Workshop nach Würzburg gekommen sind.
CD: Vielen Dank für die Einladung.
(1) Traditionelle Geschichtenerzähler:innen im westafrikanischen Kulturraum, die häufig in Kombination mit Musik historische Geschichten überliefern und damit die orale Tradition des Geschichtenerzählens bewahren. Vgl. McKenna, Amy: Stichwort „Griot.“ Griot/Britannica Academic. Encyclopædia Britannica Online. https://academic.eb.com/levels/collegiate/article/griot/472465 (2009, Zugriff am: 09.01.2022).