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WueDive - Digitale Innovationen in der Lehre

Gehirne puzzeln - Virtual Reality im Biologiestudium

04.09.2023

Das Serious Game „BrainBuilder“ schickt seine Spieler:innen ins Labor – und vermittelt darüber anatomische und funktionale Aspekte von Insektengehirnen.

Auf einer Waldlichtung sind verschiedene Spielstationen zum Hummelgehirn aufgebaut.
Screenshot des Gesamtspiels: Eine Übersicht über alle bisher verfügbaren Minispiele und die Spielumgebung. (Bild: Anne Vetter)



Präparierte Objektscheiben nacheinander unter das Mikroskop gelegt veranschaulichen Studierenden in einer Abfolge von Schichten die winzigen Gehirnstrukturen von Insekten. In der Studienzeit von Prof. Keram Pfeiffer war das die gängige Didaktik. „Diese einzelnen Bilder mental zu einem dreidimensionalen Modell zusammenzubringen war nicht einfach für mich“, sagt der Professor für Neurobiologie heute. Später war es möglich, dreidimensionale Daten am Computerbildschirm von allen Seiten zu betrachten. Obwohl das schon eine erhebliche Erleichterung gegenüber den Schnittpräparaten war, waren wir weiterhin auf den zweidimensionalen Bildschirm begrenzt.“

Als Keram Pfeiffer dann Jahre später mit Virtual Reality (VR) in Berührung kam, sah er darin die Möglichkeit, den entscheidenden Schritt weiterzugehen: Studierende können nun in seinem Kurs die komplizierten Strukturen eines Hummelgehirns durch eine VR-Brille dreidimensional betrachten und sogar mit ihnen interagieren: „Die notwendigen Daten fallen bereits überall an – beim Mikroskopieren, in der Forschung! Wir mussten sie nur noch aufbereiten und nutzen.“, sagt Prof. Pfeiffer und betont: „Für Menschen mit einem schlechten räumlichen Vorstellungsvermögen wie mich ist VR ein Segen, für alle anderen eine Bereicherung“.

Aus dieser Erfahrung wuchs die Initiative, ein Lernspiel in VR zu entwickeln. Der Biologe arbeitet dazu Hand in Hand mit der Professur für Games Engineering am Fachbereich Human-Computer Interaction. Anne Vetter und Tobias Lengfeld sind Spielentwickler:innen und haben sich auf interaktive Echtzeitsysteme und sogenannte Serious Games spezialisiert: „Das Ziel und die wesentliche Idee ist, komplexe Forschungsdaten wie die eines Hummelgehirns in die Lehrpraxis zu transferieren und erfahrbar zu machen.“

 

Im Gespräch geben Anne Vetter und Tobias Lengfeld Einblick in die gemeinsame Arbeit:

Wie entsteht ein Serious Game und was versteht man eigentlich darunter?

Serious Games nutzen spielerische Elemente, um Lehrinhalte zu vermitteln. Es sind Projekte, bei denen mehrere Disziplinen eng miteinander verwoben sind. Natürlich ist hierbei zunächst das konkrete Fachwissen gefragt, wofür wir in unserem Fall eng mit Prof. Dr. Keram Pfeiffer zusammenarbeiten. Genauso wichtig ist allerdings Kompetenz in den Bereichen Instructional Design und Game Design, so wie die technischen Fähigkeiten das Ganze zu entwickeln.
Hierfür werden wir von der Games Engineering Group von Prof. Dr. Sebastian von Mammen unterstützt. Insbesondere Mounsif Chetitah, der im Rahmen seiner Doktor-Arbeit ein Framework zur Gestaltung effektiver Serious Games erstellt, berät uns regelmäßig bei der Entwicklung. Den Design- und Development-Part übernehmen wir.

Wie seid ihr bei der Entwicklung vorgegangen?

Zum Erstellen des BrainBuilders haben wir zuerst den Lehr-Kontext betrachtet. Da unser Spiel als Unterstützung für eine bestehende Lehrveranstaltung konzipiert ist, zielen wir darauf ab, das bereits erworbene Wissen zu vertiefen, anstatt es von Grund auf neu zu lehren.

Um Wissen effektiv und unterhaltsam in einem Spiel zu vermittelt wird, nutzen wir das Serious Game Design-Framework von Mounsif Chetitah, welches aus drei Kern-Elementen besteht:  Knowledge Design, Instructional Design and Game Design. Auf dem Fachwissen von Keram Pfeiffer bauen wir das Instructional Design auf. Hierzu folgen wir pädagogischen Grundlagen der Wissensvermittlung. Wir definieren Lernziele und wählen entsprechende Aktivitäten aus, um diese Ziele zu erreichen. In unserem Fall werden diese Aktivitäten in Mini-Games umgesetzt.

Durch gezieltes Instructional Design wird dann sichergestellt, dass die Inhalte und die Vermittlung dieser den Lernzielen entspricht und das spielerische Lernen dann auch effektiv gewünschte Resultate hervorbringt.

Und wie sieht euer Spiel konkret aus?

Übergreifendes Setting ist es, Gehirne verschiedener Insekten in einem Labor zu produzieren. Jede Produktionslinie ist in mehrere Mini-Games unterteilt, die jeweils verschiedene Aspekte des Lernprozesses ansprechen. So hat zwar jedes Mini-Game ein eigenes Lernziel, allerdings dienen sie alle dem Hauptziel des Spiels: den Aufbau eines Insektengehirns zu verinnerlichen.

Am „Schießstand“ geht es beispielsweise darum, das richtige 3D-Modell des Gehirns zu identifizieren und zu treffen. Sich hier jeweils markante Elemente einzuprägen, ist dabei elementar, da die Modelle den Spielenden immer wieder in unterschiedlichen Ansichten präsentiert werden. Die Kür unter den Mini-Games ist ein Puzzle, bei dem die Einzelteile des Gehirns in 3D aus dem Kopf richtig zusammengesetzt werden müssen.

Den Design-Prozess gehen wir iterativ an, sodass in regelmäßigen Abständen Playtesting-Sessions durchgeführt werden und wir das Design entsprechend überarbeiten. Wie das Spiel am Ende genau aussieht, entsteht erst im Projektverlauf.

Ein animiertes Insektengehirn schwebt in einer Waldlandschaft. Rechts und links von ihm befindet sich je eine Zielscheibe in grün bzw. rot.

 

Lasst uns darüber sprechen, welchen Mehrwert Serious Gaming für den Lernprozess hat. Wie greifen Lernen und Spielen ineinander?

Die enge Verbindung zwischen Lernen und Spielen ist unbestreitbar, da das Spielen selbst eine Lernaktivität darstellt. Durch das Überwinden von Herausforderungen und das Erhalten von Feedback können Spielende ihre Fähigkeiten verbessern und ihr Gelerntes tiefer und nachhaltiger verankern. Das Prinzip des Lernens durch Erfahrung und Fehler ist in vielen Spielen integriert.

Eine gute Spiel- (und Lern-)erfahrung hängt von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Herausforderung und Fähigkeiten des Spielers, abwechslungsreichem Gameplay und einer angemessenen technischen Umsetzung ab. Dazu gehört auch, dass die Interaktionen und die Steuerung intuitiv und verständlich gestaltet sind und die Präsentation der Spielinhalte attraktiv ist. Spielmechaniken wie Belohnungssysteme, Wettbewerb oder Zusammenarbeit können den Lernprozess positiv beeinflussen. Zudem können Spielende stundenlang in Games vertieft sein, ohne dass es sich wie Arbeit anfühlt, was zu einem größeren Lernumfang führen kann.

Ist damit der sogenannte Flow-Zustand gemeint?

Ja, ein Flow-Zustand entsteht, wenn eine Person vollständig in eine Aktivität eintaucht. Sie befindet sich in einem Zustand, in dem sie herausgefordert wird, aber auch über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um die Herausforderung zu meistern. Das macht auch ein gutes Spiel aus. Im Hinblick auf Serious Games ist Flow zusätzlich vorteilhaft, da er die Motivation und Konzentration der Spieler:innen steigert und somit das Lernen effektiver gestaltet.

Zwei zentrale Faktoren für das Erreichen des Flow-Zustands sind User Engagement und Immersion.
Immersion bezieht sich darauf, wie gut ein Spiel die Spielenden in eine virtuelle Welt eintauchen lässt. User Engagement beschreibt die Fähigkeit eines Spiels, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Spielenden zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Ein Spiel mit hohem User Engagement bietet ansprechende Inhalte und Herausforderungen, die die Spielenden motivieren, sich mit dem Spiel auseinanderzusetzen.

Waldumgebung mit einer Art Blase. In der Blase befindet sich das zusammengesetzte Hummelgehirn.

 

Wenn wir nochmal auf den Designprozess zurückkommen. Wie läuft die Entwicklung eines Serious Games ab?

Der Entwicklungsprozess eines Games besteht üblicherweise aus drei Hauptphasen: Konzeptphase, Prototypenphase und Produktionsphase. Die Konzeptphase umfasst die Erarbeitung eines Konzepts und die Entwicklung eines ersten Proof-Of-Concepts, der zeigt, ob die Spielidee funktioniert. In der Prototypenphase wird das Kernspiel gebaut und die Vision vermittelt. Bis das Spiel dann in der Produktionsphase poliert und fertiggestellt wird. Hierbei werden Assets (3D-Modelle, Musik,…) produziert und ein einsatzfähiges Spiel erstellt. Das kann bspw. auch die Erstellung mehrerer Level beinhalten. Für ein durchschnittliches Spiel würden die Phasen wohl etwa 15/40/45% des Entwicklungszeitraums einnehmen. Allerdings ist der Entwicklungsprozess von Videospielen sehr individuell, da nicht jedes Spiel den gleichen Umfang oder die gleiche Komplexität besitzt.

Für den BrainBuilder müssen wir außerdem mit einrechnen, dass das Projekt nicht den gleichen Anspruch wie ein kommerzielles Game besitzt. Wir arbeiten zwar mit den branchenüblichen Phasen, aber durch den Serious Game-Charakter muss mehr Zeit für die Konzeptphase eingeplant werden. Auf der anderen Seite planen wir mit weniger Zeit für die Produktionsphase, da es im Rahmen von WueDive wichtiger ist, das geplante Konzept zu vermitteln, als eine perfekte visuelle Gestaltung zu erzielen.

In den WueDive Teilprojekten geht es auch immer um konkrete Transfermöglichkeiten. Wie schätzt ihr die Übertragbarkeit eures Games auf andere Anwendungsfälle ein?

Sobald das Spiel fertiggestellt ist, müssen die verschiedenen Übertragungsmöglichkeiten individuell betrachtet werden. Zum einen können generische Varianten der einzelnen Mechaniken über den Reality Stack, einer Sammlung unterschiedlicher Lösungen für XR/VR/AR-Anwendungen des Lehrstuhls für Human-Computer Interaction, anderen zugänglich gemacht werden, die beispielsweise ein herkömmliches Puzzlespiel in VR entwickeln möchten.

Auf der anderen Seite kann das gesamte Spielkonzept auch als Beispiel genutzt werden, um anderes Wissen, das sich durch ähnliche Instruktionen lernen lässt, abzubilden. In der Biologie könnten es Skelette oder Organsysteme verschiedener Tierarten und auch des Menschen sein. Darüber hinausgedacht, könnte aber auch der Aufbau eines Computers durch die gleichen Mini-Games wie in unserem Spiel erlernt werden, indem man zunächst einen Plan benötigt, Teile identifiziert und benennt, die Funktionalität versteht und sie zusammenbaut. In diesem Fall müssen nur Modelle und Modelldaten sowie möglicherweise die Story und das Ambiente angepasst werden. Spielaufbau und Mechaniken können jedoch direkt übernommen werden, wodurch der Aufwand für die Entwicklung eines neuen Spiels dieser Art gering ausfallen dürfte.

Wir sind gespannt auf die weiteren Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem BrainBuilder. Vielen Dank für eure Einblicke.

 

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