Virenvermehrung in 3D
17.12.2019Vaccinia-Viren dienen als Impfstoff gegen menschliche Pockenerkrankungen und als Basis neuer Krebstherapien. Zwei Studien liefern jetzt faszinierende Einblicke in deren ungewöhnliche Vermehrungsstrategie auf atomarer Ebene.
Damit Viren sich vermehren können, benötigen sie in der Regel die Unterstützung der von ihnen befallenen Zellen. Nur in deren Zellkern finden sie die Maschinen, Enzyme und Bausteine, mit deren Hilfe sie ihr genetisches Material vervielfachen können, bevor sie weitere Zellen infizieren.
Doch nicht alle Viren finden den Weg in den Zellkern. Einige verbleiben außerhalb des Zellkerns im sogenannten Zytoplasma und müssen so aus eigener Kraft heraus in der Lage sein, ihr Erbgut zu verdoppeln. Den dafür notwendigen „Maschinenpark“ müssen sie selbst mitbringen. Eine wesentliche Rolle übernimmt dabei eine spezielle Enzym-Maschine, kombiniert mit diversen Untereinheiten: die RNA-Polymerase. Dieser Komplex liest die genetische Information vom Erbgut des Virus ab und übersetzt sie in die mRNA, ein langes Molekül, das als Blaupause für die im Erbgut kodierten Proteine dient.
Publikation in Cell
Wissenschaftlern vom Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie (MPI-BPC) in Göttingen ist es jetzt erstmals gelungen, die Struktur dieses Enzymkomplexes aus Pockenviren dreidimensional und in atomarer Auflösung darzustellen. Sie haben dabei mit dem Vaccinia-Virus gearbeitet – einem DNA-Virus, das zur Familie der Pockenviren gehört, das aber für den Menschen völlig harmlos ist. Dieses dient nicht nur als Grundlage aller Pocken-Impfstoffe, es wird auch in der sogenannten onkolytischen Virotherapie zur Bekämpfung von Krebserkrankungen erprobt.
Verantwortlich für die strukturbiologischen Arbeiten sind Utz Fischer, Inhaber des Lehrstuhls für Biochemie I der JMU Würzburg, und Patrick Cramer, Direktor und Leiter der Abteilung Molekularbiologie am MPI-BPC. In zwei zeitgleich erscheinenden Veröffentlichungen in der Fachzeitschrift Cell stellen sie jetzt die Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit vor.
Eine molekulare Klammer, die alles zusammenhält
„Die RNA-Polymerase des Vaccinia-Virus existiert im Wesentlichen in zwei Erscheinungsformen: dem eigentlichen Kernenzym und einem noch größeren Komplex, der dank zusätzlich hinzugefügter Untereinheiten über weitere, spezielle Funktionalitäten verfügt“, erklärt Fischer. Das Kernenzym gleicht in weiten Teilen einem anderen bekannten Enzym, welches seit Längerem im Fokus der Abteilung von Patrick Cramer steht: der RNA-Polymerase II. Diese ist normalerweise im Zellkern zu finden, wo sie ebenfalls dafür zuständig ist, die Information aus dem Erbgut abzulesen und in mRNA zu übersetzen. Dieser Vorgang wird Transkription genannt.
Den zweiten Komplex der Vaccinia-RNA-Polymerase bezeichnet Fischer als „Alleskönner“. Zusammengesetzt aus zahlreichen Untereinheiten ist er dafür verantwortlich, für das Virus den gesamten Transkriptionsprozess durchzuführen und damit dessen Vermehrung zu ermöglichen.
Zusammengehalten wird der Komplex von einem Molekül, welches das Virus aus seiner Wirtszelle entwendet: einer tRNA. Diese Art von Molekülen spielt normalerweise keine Rolle in der Transkription, sondern liefert die Aminosäure-Bausteine für die Proteinherstellung. „Ohne die Mitwirkung der Wirts-tRNA würde diese riesige Maschinerie mit all ihren spezifischen Untereinheiten auseinanderfallen“, so der Strukturbiologe Clemens Grimm, der zusammen mit Hauke Hillen vom MPI-BPC die Strukturanalyse durchführte.
Die Forscher vermuten, dass der tRNA-Strang neben seiner verbindenden Funktion noch eine weitere wichtige Aufgabe übernimmt. „Diese tRNA kann nur mit Glutamin beladen werden, einer Aminosäure, die nicht nur für die Herstellung von Proteinen, sondern auch als Energie- und Stickstoffquelle der Zelle notwendig ist“, erklärt Aladar Szalay, Mitautor der Studie und Leiter des Cancer Therapy Research Center (CTRC) an der JMU. Da das Virus für seine Replikation auf Stickstoff angewiesen ist, könnte die tRNA als Sensor dienen, der dem Virus Auskunft über den aktuellen Stickstoffgehalt in der Zelle gibt. Sinkt dieser unter einen bestimmten Wert, könnte dies für das Virus das Signal sein, die Zelle möglichst bald zu verlassen. Das ist allerdings bisher nur eine Hypothese.
Viren-Vermehrung im Film
Um der Funktionsweise der viralen RNA-Polymerase auf die Spur zu kommen, ermittelten die Forscher ihre dreidimensionale Struktur zusätzlich während unterschiedlicher Schritte der Transkription. Mit diesen neuen Erkenntnissen ist es nun möglich, den gesamten Prozess der Viren-Vermehrung auch strukturbiologisch nachzuvollziehen. Wie in einem Film lässt sich nachverfolgen, wie diese „molekulare Maschine“ auf atomarer Ebene funktioniert und wie die einzelnen Abläufe choreografiert sind. „Besonders erstaunlich ist, wie sich die Bausteine der Maschine nach dem Start der Transkription neu anordnen, um die Synthese des RNA-Produkts voranzutreiben – dieser Komplex ist wirklich sehr dynamisch“, erklärt Hillen.
Um diese Einsichten zu erhalten, mussten Biochemiker und Strukturbiologen eng zusammenarbeiten: Die Biochemikerinnen Julia Bartuli und Kristina Bedenk an der JMU haben in einem jahrelangen Prozess den Polymerase-Komplex mit all seinen interagierenden Komponenten aufgereinigt und biochemisch charakterisiert. Die Strukturbiologen Grimm und Hillen waren anschließend dafür zuständig, die dreidimensionalen Strukturen zu ermitteln.
Ein Supermikroskop liefert die nötigen Daten
Die entsprechenden Daten erhielten die Forscher von einem Gerät, das die Strukturanalyse in den vergangenen Jahren revolutioniert hat: einem Kryo-Elektronenmikroskop der neuesten Generation, wie es sowohl an der JMU (am Rudolf-Virchow-Zentrum, unter der Leitung von Prof. Bettina Böttcher) als auch am MPI-BPC in Betrieb ist. Mit einer Spannung von 300.000 Volt schießt es Elektronen durch die auf minus 180 Grad Celsius gekühlten Proben und liefert so Bilder mit einer Auflösung, die sich in der Größenordnung von Atomen bewegt. Das Mikroskop macht es möglich, biologische Moleküle und Komplexe zu untersuchen und deren dreidimensionale Struktur zu rekonstruieren.
Rund sechs Monate mussten Grimm und Hillen an ihren Computern tüfteln, bis sie aus mehreren Terabyte Daten räumliche Modelle der Polymerase-Komplexe entwickelt hatten. „Ohne die neuen Kryo-Elektronenmikroskope an unseren Institutionen und die hervorragende Kooperation zwischen den beiden Gruppen wäre das nicht so schnell und in dieser Qualität möglich gewesen“, sagt Grimm. Mit einer 3D-Brille kann nun jeder den Komplex sich räumlich vor Augen führen, beliebig drehen und in seine Untereinheiten zerlegen.
Die neuen Erkenntnisse bieten nach Ansicht der Wissenschaftler jetzt unter anderem die Möglichkeit, Inhibitoren und Modulatoren zu entwickeln, um auf den viralen Vermehrungszyklus Einfluss zu nehmen. Weil die Vaccinia-Vermehrung im Zytoplasma abläuft, versprechen sie sich davon auch ein therapeutisches Potenzial. Aktuell laufen weltweit Studien, bei denen Vaccinia-Viren im Kampf gegen Krebs zum Einsatz kommen. Die Firma Genelux, die ebenfalls an der Studie beteiligt war, hat in Tierversuchen und an Patienten bereits das Potenzial speziell optimierter Vaccinia-Viren bewiesen, Tumore zu verkleinern und kleinste Metastasen aufzuspüren. Zusätzlich erwarten die Forscher neue Einblicke in die Funktionsweise des verwandten RNA-Polymerase II-Enzymkomplexes aus dem Zellkern. Was diesen betrifft, seien auch noch etliche Aspekte ungeklärt.
Ein Video, das den Enzymkomplex in seinen Details zeigt, ist auf dem Youtube-Kanal der JMU zu sehen.
Die Originalpublikationen
„Structural basis of poxvirus transcription: Vaccinia RNA polymerase complexes“, C. Grimm, H.S. Hillen, K. Bedenk, J. Bartuli, S.Neyer, Q. Zhang, A. Hüttenhofer, M. Erlach, C. Dienemann, A. Schlosser, H. Urlaub, B. Böttcher, A. Szalay, P. Cramer and U. Fischer. Cell 179 (2019) pp., 1537-1550, DOI: 10.1016/j.cell.2019.11.024
„Structural basis of poxvirus transcription: transcribing and capping Vaccinia complexes“, H.S. Hillen, J. Bartuli, C. Grimm, C. Dienemann, K. Bedenk, A. Szalay, U. Fischer and P. Cramer: Cell 179 (2019) pp., 1525-1536, DOI: 10.1016/j.cell.2019.11.023
Kontakt
Prof. Dr. Utz Fischer, Lehrstuhl für Biochemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg,
T: +49 931 31-84029, utz.fischer@biozentrum.uni-wuerzburg.de
Prof. Dr. Patrick Cramer, Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, Göttingen
T: +49 551 201-2800, pcramer@mpibpc.mpg.de