Der Rektor beim Novemberpogrom
06.11.2018Am 9. November 1938 organisierten die Nazis systematische Ausschreitungen gegen Juden. Auch in Würzburg wurden jüdische Bürger misshandelt, ihre Geschäfte zerstört und die Synagoge verwüstet. Mit dabei: der Rektor der Universität.
Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, wurden im Deutschen Reich tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet. Ihre Wohnungen, Geschäfte und Synagogen wurden zerstört oder angezündet. Die nationalsozialistischen Herrscher hatten diese Terroraktion angezettelt; ihre Schergen vor Ort führten sie aus.
Auch in Würzburg schritten NSDAP-Leute und ihre Helfer zur Tat. Mitten im Mob, der durch die Stadt zog, war Professor Ernst Seifert (1887 - 1969), der damalige Rektor der Universität. Seifert, ein gebürtiger Würzburger und studierter Mediziner, leitete die Universität seit Januar 1938. Ins Amt gekommen war er mit der Unterstützung von Gauleiter Otto Hellmuth. Dieser hatte ihn beim Reichserziehungsministerium als Kandidaten angepriesen, der „das volle Vertrauen“ der Partei genieße. Seifert gehörte der NSDAP und der SA seit 1933 an.
Amtsführung als Rektor war eher unauffällig
Seifert darf als überzeugter Nationalsozialist gelten, wie der Würzburger Historiker Peter A. Süß in seinem Buch „Kleine Geschichte der Universität Würzburg“ schreibt. Das ergebe sich auch klar aus einigen Reden, die Seifert zwischen 1938 und 1942 gehalten hatte, meist anlässlich der Immatrikulation neuer Studenten.
Trotzdem sei Seiferts Amtsführung im Vergleich zu anderen Universitätsrektoren dieser Zeit nicht sonderlich auffällig gewesen – abgesehen von seiner Teilnahme am Novemberpogrom 1938. Am Ende blieb das für ihn folgenlos.
Die Geschehnisse aus Sicht des Rektors
Im Würzburger Universitätsarchiv sind Akten vom Gerichtsprozess erhalten, in dem sich Seifert nach dem Krieg wegen schweren Landfriedensbruchs verantworten musste. In dem Verfahren schilderte er die Vorkommnisse aus seiner Sicht.
Seifert erhielt demnach am Abend des 9. November 1938 einen Anruf: Er solle umgehend zu einer Versammlung der SA in den Gasthof Hemmerlein kommen. Dort habe dann niemand gewusst, worum es bei dem Treffen gehen sollte. Schließlich hätten die SA-Leute auf der Straße Aufstellung genommen. Er, Seifert, sei in der dritten Reihe von vorne gewesen.
Der Marsch ging Richtung Innenstadt. Beim jüdischen Kaufhaus Loeser in der Domstraße seien einige Männer vorgetreten und hätten die Schaufenster eingeworfen. Die Menge drang ins Kaufhaus ein und verwüstete es. Seifert sagte aus, er selber sei auf der Straße geblieben. Er habe es nicht gewagt, sich zu entfernen – zum einen sei der örtliche SA-Führer in der Nähe gewesen, zum anderen habe er Angst gehabt, als Teilnehmer des Treibens verhaftet zu werden.
Der Mob zerstörte weitere jüdische Geschäfte und zog weiter zur Hauptsynagoge in der Domerschulstraße. Dort habe die Menschenmasse so stark gegen das Tor gedrückt, dass es aufsprang. Seifert sagte aus, er sei mit der Menge erst in den Synagogenhof und dann ins Gebäude hineingeschoben worden. In der Synagoge habe er erhebliche Zerstörungen bemerkt.
Bei der Suche nach einem rückwärtigen Ausgang zur Bibrastraße sei er zuerst in den Keller, später auf die Empore gelangt. Über eine Treppe kam er zurück in den Hof. Dort seien inzwischen nicht mehr so viele Menschen gewesen, so dass er das Anwesen verlassen konnte. Voller Empörung über das unrechtmäßige Treiben sei er schließlich nach Hause gegangen.
Andere Schilderungen der Pogromnacht
Historiker Peter Süß führt in seinem Buch andere Stimmen zu dieser Nacht an. So sei dem Schriftsteller Leo Weismantel (1888 - 1964) erzählt worden, Seifert habe eigenhändig mit einer Eisenstange Schaufenster zertrümmert, in der Praxis eines Arztes Röntgenapparate zerstört und in der Synagoge mit Kultgegenständen Fußball gespielt. Nachdem sich all das nicht beweisen ließ, hätte Weismantel seine Aussagen zurückgenommen.
Ähnliches berichtet Margret Boveri (1900 - 1975), die Tochter des Würzburger Biologen Theodor Boveri, in ihren Memoiren: Seifert sei an der Spitze von Studenten in eine jüdische Wohnung unter der ihren eingedrungen und habe dort die Einrichtung verwüstet.
In der Hauptsynagoge wurde bei dem Pogrom das Inventar zertrümmert und im Synagogenhof verbrannt. Das Gebäude anzuzünden, traute man sich nicht – zu groß war offenbar die Angst, dass in der dicht bebauten Domerschulstraße das Feuer auf die angrenzenden Häuser übergreifen könne.
Spruchkammer stufte Seifert als minderbelastet ein
In den Gerichts- und Spruchkammerverfahren nach dem Krieg ließen sich den Akten zufolge weder Seiferts Beteiligung an den Zerstörungen noch seine Verantwortlichkeit beweisen. Laut Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg von 1950 konnte ihm keine „Rädelsführerschaft“ nachgewiesen werden. Augenzeugen fanden sich nicht, das Gericht stellte das Verfahren ein.
Im Entnazifizierungsverfahren vor der Hauptspruchkammer in München wurde Seifert als „minderbelastet“ eingestuft. Er sei „nicht hinreichend verdächtig, Hauptschuldiger oder Belasteter“ zu sein, so die Kammer am 7. Dezember 1950.
Als Universitätsprofessor ging Ernst Seifert mit 64 Jahren Ende 1952 in den Ruhestand. Später arbeitete er weiter als Chirurg in der Würzburger Rotkreuzklinik, bis zu seinem Tod am 29. August 1969. Der Nachruf in der Main-Post trug die Überschrift „Er arbeitete bis zum letzten Tag“.
Synagoge durch Bomben zerstört
Nach dem Novemberpogrom nutzte die NSDAP die Synagoge in der Domerschulstraße als Parteibüro. Im März 1945 dann wurde das 1837 erbaute Gebäude durch einen Bombentreffer zerstört.
Den Platz, an dem die Würzburger Hauptsynagoge stand, hat die Jüdische Gemeinde würdig gestaltet: Das Gelände hinter dem Diözesanarchiv ist als kleiner Park angelegt und ruft den Grundriss der Synagoge in Erinnerung. Es stehen dort Reste des alten Mauerwerks und eine Gedenktafel für die Opfer der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Auch die Diözese Würzburg hat an ihrem Archiv- und Bibliotheksgebäude eine Bronzetafel zur Erinnerung angebracht. Darauf sind Synagoge, Gemeindehaus und der umgebende Hof reliefartig dargestellt.
Historische Aufarbeitungen durch die Universität
Die Universität Würzburg hat verschiedene Aspekte zu ihrer Rolle im Nationalsozialismus aufgearbeitet. Mit dieser Zeit befassen sich unter anderem folgende Bücher:
- „Kleine Geschichte der Würzburger Julius-Maximilians-Universität“, Peter A. Süß, Verlag Ferdinand Schöningh, Würzburg 2002, ISBN 3-87717-707-7
- „Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, Peter Baumgart (Hrsg.), Band LVIII der Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Kommissionsverlag Ferdinand Schöningh, Würzburg 2002, ISBN 3-87717-064-1
- „Die geraubte Würde. Die Aberkennung des Doktorgrads an der Universität Würzburg 1933 - 1945“, Band 1 der Beiträge zur Würzburger Universitätsgeschichte, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. Die Universität hat die von der Aberkennung des Doktorgrads betroffenen 184 Personen 2011 öffentlich rehabilitiert.
Zur Wanderausstellung „Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ steuerten die Medizinische Fakultät und das Klinikum einige Sondertafeln bei, die sich speziell mit der Rolle der Universität Würzburg befassen. Die Wanderausstellung stammt von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in Kooperation mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors.
Eine Stele auf dem Gelände des Zentrums für psychische Gesundheit des Universitätsklinikums Würzburg erinnert seit 2014 an die Tausenden im Dritten Reich zwangssterilisierten und ermordeten psychisch kranken Menschen.
70 Jahre nach Kriegsende erinnerte 2015 die Ausstellung „Zerstörung – Umbruch – Aufbruch“ des Universitätsarchivs an die Geschichte der Universität Würzburg in der Kriegs- und Nachkriegszeit, unter anderem an die Wehrforschung während des Zweiten Weltkriegs.
Professor Johannes Dietl, von 1996 bis 2014 Direktor der Universitätsfrauenklinik, hat die Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen an der Universitätsfrauenklinik Würzburg in der Zeit von 1934 bis 1945 in Aufsätzen aufgearbeitet.
Universitätsarchivar Dr. Marcus Holtz nennt weitere Themen, die der Aufarbeitung harren. Das ist zum einen der Einsatz von Zwangsarbeitern an der Universität, zum anderen der Verweis jüdischer Studierender von der Universität. Beide Aufarbeitungen seien fordernde Aufgaben – vor allem darum, weil die Aktenlage dünn ist oder weil es gar keine Unterlagen mehr gibt: Die meisten Universitätsakten aus dieser Zeit sind beim Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 verbrannt.